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Schiffbrüche und Notsituationen gehörten zur Realität des Seereisens. In vielen faktischen Reiseerzählungen wird daher auch von Schiffbrüchen erzählt, die eine insulare Isolationssituation eines Einzelnen oder einer Gruppe zur Folge hatten. Auf diesen faktischen Beschreibungen historischer Ereignisse basierend entsteht das eigenständige literarische Erzählmotiv des „Robinson“, welches für die Robinsonade gattungsbestimmend wird.[1] Entsprechend der oben beschriebenen textuellen Prozesse unterliegt dieses Motiv einem Fiktionalisierungsprozess; faktische Beschreibungen der Isolationssituation werden benutzt und kopiert oder verändert und tauchen in Erzähltexten mit unterschiedlichem Fiktionalisierungsgrad wieder auf.

Das Robinson-Motiv im Erzähltext unterliegt also einer bestimmten textuellen Tradition, die Defoes Crusoe den Weg ebnet. Einerseits werden daher nachfolgend jene Texte untersucht, denen ein Bezug zu Defoes Erzählung direkt nachzuweisen ist, andererseits muss aber auch die Tradition des Motivs allgemein deutlich gemacht werden, da somit das Umfeld und das Entstehungsklima der Robinsonade erkennbar wird. Diese Darstellung ist wichtig, da sonst der gesamte Umfang der hier stattfindenden textuellen Dynamik nicht deutlich wird.

4.1. Das Robinsonmotiv in der faktischen Reiseerzählung

Es wird schon in frühen faktischen Reiseerzählungen von Schiffbrüchen berichtet, welche die Isolation einer Gruppe auf einer Insel zur Folge hatten. Im Text Waerrachte Beschrijving van Willem Barendts drie sijllagien (1596/97) von Gerrit de Veer wird beispielsweise in einem tagebuchartigen, nüchternen Bericht über die Suche nach einem nördlichen Seeweg nach Indien erzählt, die mit einem Schiffbruch und der Überwinterung auf der Insel Nowaja Semlja endet (Polak, 304). In der Erzählung Vervaarligke Schipbreuk van´t Oostindiesche Jacht ter Schelling (1675) von Franz Jansz van der Heiden und Willem Kunst wird von einem Schiffbruch an einer unbewohnten Insel vor der Küste Bengalens erzählt. Die hier isolierten Seeleute ernähren sich von Blättern, Leguanen und Schlangen. Beim Verzehr von Schnecken erleiden sie eine Vergiftung. Nur durch die Hilfe von Ureinwohnern entgehen sie dem Hungertod (Polak, 304).

Es wird deutlich, dass die Isolationssituation schon früh im faktischen Erzähltext zu finden ist. Adams macht deutlich, dass auch nicht-englische Reiseerzählungen dem englischen Leser zur Verfügung standen. Der Austausch von Reiseberichten zwischen England und dem Kontinent war rege (Travel Literature and the Novel, 16). Durch die Verbreitung von Reiseerzählungen allgemein wird auch die textuelle Darstellung von Isolationssituationen zu einem allgemein bekannten Erzählmotiv.

In Hakluyts Textsammlung findet man eine Erzählung über eine Isolationssituation, welche dieses bestätigt. Hier wird von John Segars Überleben auf St. Helena im Süd-Atlantik berichtet. Dieser nähte sich, wie später auch Selkirk, Anzüge aus Ziegenfell. Dieser Text könnte auch eine mögliche Quelle von Defoe gewesen sein (Fausett, 7). Das faktische Detail der Ziegenfell-Bekleidung taucht nachfolgend in vielen Vor- Defoeschen Robinsonaden auf. Es wird, ebenso wie andere Details der realen Isolationssituationen, zu einem häufig verwendeten Erzählmotiv.

Fausett berichtet auch über die Erzählung des Henry Pitman. Dieser flieht aus einem Gefängnis auf Barbados 1685 und lebt anschließend drei Monate zusammen mit einigen anderen Männern auf Tortuga Island. Pitman entkommt mit einem Schiff, auf dem gerade eine Meuterei stattgefunden hatte und lässt seine Leidensgenossen zurück, unter denen sich auch ein Mann namens Wicker befand. Diese Figur war laut Fausett möglicherweise Vorbild für die Figur des Meuterers Will Atkins in Defoes Crusoe (Fausett, Strange Sources, 5; 7). Tatsächlich gibt es darüber hinaus weitere Parallelen zwischen Defoes Erzählung und den Schilderungen der Flucht Pitmans von Tortuga Island: Auch auf dem Schiff mit dem Crusoe die Insel verlässt, fand eine Meuterei statt. In beiden Fällen bleiben Seeleute auf der Insel zurück.

Garcilaso de la Vega schildert in seinem Text Commentarios Reales (1609) die angeblich wahren Begebenheiten des Schiffbruches und Überlebenskampfes des Spaniers Petro Serrano. Vega behauptet, dass er seine Informationen von einem guten Freund bekommen habe, der Serrano persönlich kannte. Serrano erlitt in der Karibik vermutlich Anfang des sechzehnten Jahrhunderts Schiffbruch und überlebte sieben Jahre auf einer Sandbank. Treibholz und Schildkröten bildeten die einzige Überlebensgrundlange. Nach einigen Jahren stieß ein weiterer Schiffbrüchiger dazu. Beide überleben nur mit Mühe und hatten große Schwierigkeiten mit dem Fehlen von Kultur und Gesellschaft (Lecki, 510-512). Dieser Text wird 1688 unter dem Titel Royal Commentaries of Peru ins Englische übersetzt und stand somit Defoe als mögliche Quelle zur Verfügung. Fausett sieht in der Begegnung zwischen Serrano und dem zweiten Schiffbrüchigen eine gewisse Ähnlichkeit zur Begegnung Robinsons mit Freitag (4).

Dampier berichtet in seiner Reiseerzählung über die Rettung eines Moskiten namens Will. Dieser war Crew-Mitglied an Bord eines englischen Seglers. Er wurde 1681 auf der Insel Juan Fernandez zurückgelassen, als die Mannschaft des vor der Insel ankernden Schiffes von einem spanischen Geschwader überrascht wurde und schnell fliehen musste (Haken, 9-10). Mit einem Messer und einer Flinte ausgerüstet lebte Will drei Jahre in Isolation, bevor er wieder an Bord genommen wurde. In dieser Zeit verlor er den Bezug zur europäischen Kultur völlig. Haken betont, dass der Überlebenskampf von Will nur erfolgreich war, weil er seinen Verstand und seine Intelligenz zu benutzen wusste. So baute er sich beispielsweise einen Amboss und eine Esse, um den Lauf seines Gewehres in eine Harpune und ein weiteres Messer umwandeln zu können. Die Vernunftbegabung des Menschen wird in dieser Erzählung laut Haken als Mittel des Überlebenskampfes dargestellt (15). Dieses ist auch bei Smeeks und Defoe ein entscheidender Faktor bei der Ausgestaltung des Robinson-Motivs.

Fausett betont, dass Will bei seiner Rettung durch Dampier an Bord des Schiffes auf seinen Bruder stößt. Ihre von Dampier beschriebene Wiedersehensfeier, von Fausett als “weeping welcome“ bezeichnet, ist ein typischer Brauch der Moskiten, der auch vorher schon in Reiseerzählungen beschrieben wurde. Dampiers Reisetexte waren Defoes (und auch Smeeks) Quelle für Landschaftsbeschreibungen; die Erzählung von Will ,dem Moskiten, waren ihm also sicherlich bekannt. Die Schilderung des Zusammentreffens von Freitag mit seinem Vater in Robinson Crusoe ist der Beschreibung des Wiedersehens zwischen Will und seinem Bruder sehr ähnlich. Möglicherweise diente Dampiers Text hier als Vorlage (Fausett, Strange Sources 5).[2]

Als wichtigste Quelle für die textuelle Ausgestaltung des Isolationsmotivs bei Defoe wird oft Woodes Rogers faktische Erzählung über das Inselleben des Matrosen Alexander Selkirk (1676-1721) in seinem Text Cruising Voyage Round the World (1712) gesehen.[3] Selkirk verließ nach einem Streit mit seinem Kapitän Stratling das Schiff „Cinque Ports“ und bezog 1704 ebenfalls auf der Insel Juan Fernandez Quartier, wo er fünf Jahre in Isolation lebte, bevor er von Rogers an Bord genommen wurde. Die Beschreibung seiner Lebensumstände in Isolation weisen zahlreiche Ähnlichkeiten mit denen Crusoes auf. Beide Figuren sind zu Beginn ihres Inselaufenthaltes ungefähr siebenundzwanzig Jahre alt, durchleben eine Phase der Niedergeschlagenheit und leben stets in der Angst, von Feinden gefangen oder getötet zu werden. In beiden Erzählungen wird von wilden Ziegen berichtet, die sowohl von Selkirk als auch von Crusoe zu Kleidern verarbeitet werden (siehe oben). Beide Figuren entwickeln in ihrer Situation einen stärkeren Gottesglauben (Adams, Travel Literature and the Novel, 131). Darüber hinaus gibt es laut Adams in Rogers Erzählung Hinweise dafür, dass Selkirk später von der Crew den Spitznamen „Governour“ erhielt, da er als einziger Mensch auf der Insel faktisch auch „Herrscher“ war (131). Auch in Defoes Text wird Crusoe vom Kapitän des angelandeten Schiffes als „Governour“ bezeichnet und als Herrscher über die Insel anerkannt: “However, the captain told him he must lay down his arms at discretion, and trust to the governour´s mercy, by which he meant me; for they all called me governour“ (264).

Rogers Bericht ist im oben dargestellten, sachlich-objektiven Stil faktischer Reiseerzählungen verfasst. Selkirks Lebensumstände sind sehr knapp und emotionslos geschildert; die emotionale Situation, die Selkirk durchlebt hat, wird nur aufgrund der dargestellten Fakten impliziert.

Allgemein wird Rogers Erzählung ein hohes Maß an Faktizität zugesprochen. In der Darstellung der Ereignisse durch Richard Steel (in der Aufsatzsammlung The Englishman, 1713) scheint die Geschichte an Faktizität verloren zu haben. Hier wird Selkirks Situation von einem nicht zu identifizierenden Ich-Erzähler beschrieben, der behauptet, Selkirk persönlich getroffen zu haben (Ross, 306, 310). Dieser berichtet zum Beispiel von einer Begegnung Selkirks mit Seelöwen:“ I forgot to observe, that during the Time of his Dissatisfaction, Monsters of the Deep, which frequently lay on the shore, added to the Terror of his Solitute; […] He [Selkirk] speaks of Sea-Lions, whose Jaws and Tails were capable of seizing or breaking the Limbs of a man“ (Ross, 308). Die Schilderung sensationeller Inhalte, zu denen diese Beschreibung der Seelöwen gehört, dient dazu, die Erzählung für den Leser interessanter zu gestalten und von der faktischen und unspektakuläreren Reiseerzählung abzugrenzen. Aus dem gleichen Grund wird hier auch mehr Wert auf die Darstellung des Gefühlslebens Selkirks gelegt; Selkirk wird als glücklicher und zufriedener Mensch dargestellt (308). Die Erzählung endet mit einer moralischen Botschaft: “This plain Man´s Story is a memorable Example, that he is happiest who confines his Wants to natural Necessities“ (310).[4] Hier ist ein Trend zur Fiktionalisierung der Selkirk- Geschichte festzustellen. Allerdings kann das Maß der Veränderung des Berichtes durch Steele nicht einwandfrei festgelegt werden. So sind viele Fakten der Geschichte mit der Darstellung bei Rogers identisch; Steele liefert aber eine eigene Interpretation dieser Fakten. Die Beschreibung der Seelöwen und Seelöwenjagd sowie die Schilderung von Selkirks Gefühlsleben könnte aus verkaufstechnischen Gründen hinzugefügt worden sein, wofür die sensationsbetonte Darstellung spricht.

Steeles Darstellung der Gefühlssituation der Figur Selkirks erinnert sehr an die Darstellung der Situation Crusoes. In beiden Texten schildern die Erzähler nüchtern und realistisch, wägen ihre Argumente ab und stellen eine emotionale Situation sachlich und Fakten betonend dar. Auch durchleben beide Figuren sehr ähnliche Gefühle. Dieser realistische Stil ist dem von Robert Knox sehr ähnlich (siehe oben). Wie auch in der Geschichte von Will, dem Moskiten, wird in diesen drei Texten die Vernunftbegabung der Hauptfiguren betont.[5]

Faktische Reiseerzählungen bilden die Grundlage und Ideenquelle für Erzählungen über das Robinson-Motiv. Fakten, wie geographische Details und detaillierte Beschreibungen beispielsweise von der Bekleidung der Hauptfigur, tauchen in fiktiven Erzählungen wieder auf.

Die Bedeutung faktischer Texte als Quelle für Erzählmotive wird unter Kritikern diskutiert. Beispielhaft soll hier kurz die Diskussion um die Bedeutung des Selkirk- Textes für Defoes Crusoe skizziert werden. So wird zum Beispiel allgemein vermutet, dass Defoe die Texte Rogers und Steeles kannte und dass es sich bei Robinson Crusoe somit um eine weitere Fiktionalisierung der Selkirk-Geschichte handelt: “Defoe may have met Selkirk, but probably used Rogers´ account and another by Richard Steele, disguising this source by altering the location and making the marooning last for twenty-eight years (while insisting in his preface that it was ´a just matter of fact´)“ (Fausett, 4). In welchem Maße aber die Selkirk- Geschichte für Defoes Text von Relevanz ist, bleibt umstritten. Adams, beispielsweise, hält die Selkirk- Geschichte für eine wesentliche Quelle und sieht mehr Parallelen von Crusoe zu Selkirk als zu Knox (130). Dieser Aussage mag für die Bedeutung des Isolationsmotivs zutreffen, denn Knox war während seines Aufenthaltes auf Ceylon zwar von der englischen Kultur isoliert und hatte in einer für ihn fremden Welt zu leben, war jedoch nicht allein. Andererseits sind sowohl stilistische als auch inhaltliche Ähnlichkeiten zwischen der Erzählung Knoxs und der Defoes, wie bereits in Kapitel 2.3. dargestellt, sehr markant. Hunter hingegen misst dem Text Rogers gar keine Bedeutung für die Erzählung Defoes bei. Da der Selkirk- Bericht sieben Jahre vor Robinson Crusoe erschien, ist er der Meinung, dass diese Geschichte als Quelle für Defoe nicht mehr aktuell genug gewesen sein. Er bezieht sich bei dieser Annahme auf die Tatsache, dass die Person Defoe auch als Journalist tätig war und in diesem Rahmen nur aktuelle Meldungen weiterverarbeitete (4).[6]

Fausett macht deutlich, dass aufgrund der textuellen Beziehungen von Defoe zu Knox, Dampier und Rogers viele Kritiker vermuten, dass die Selkirk- Geschichte die abstrakte Idee der Inselsituation lieferte, während die Texte Knoxs und Dampiers konkretes Erzählmaterial boten, mit dem Defoe die Geschichte ausfüllen konnte (Strange Sources, 184). Er selbst schließt sich dieser These an; sieht hier aber nicht die wichtigste Quelle Defoes verborgen (Strange Sources, 197). In Abgrenzung zu Fausett soll hier die Bedeutung verschiedenen Quellen nicht „bewertet“ werden; davon abgesehen wird mit ihm darüber übereingestimmt, dass die faktischen Reiseberichte lediglich einen Teil der Tradition, in welcher Defoes Text steht, ausmachen. Für die Entstehung der Robinsonade sind nämlich auch Reiseerzählungen relevant, die nicht über die Isolationssituation einzelner Personen berichten, da auch andere Merkmale als das Robinson-Motiv die Robinsonade mitbestimmen. So ist beispielsweise auch das Motiv des Kulturkontaktes wichtiges Element der Robinsonade. Reiseerzählungen (wie die von Veiras und Smeeks), die dieses Element widerspiegeln, sind daher zu untersuchen.

Darüber hinaus gibt die direkte Austauschbeziehung zwischen Texten, wie zum Beispiel das Plagiieren, nur bedingt Auskunft über die Verbreitung, den Ursprung und die Entwicklung eines Erzählmotivs. Fausett hält daher auch das weitere Umfeld und das Entstehungsklima der Robinsonade für bedeutend. Daher wird in folgenden der Fiktionalisierungprozess des Robinson- Motives untersucht, um auch fiktive Robinson-Erzählungen in die Untersuchung mit einzubeziehen.

Tatsächlich haben , wie oben deutlich gemacht wurde, alle faktischen Beschreibungen von Isolationssituationen zahlreiche Ähnlichkeiten. Dieses ist unter anderem auf den durch die Royal Society initiierten wissenschaftlichen Objektivismus in der Reiseerzählung zurückzuführen, da hier eine bestimmte Rahmenbedingungen für die textuelle Darstellung von Beobachtungen geschaffen wurden, die auch die Erzählungen über das Robinson-Motiv prägen. Dieser Erzählstil überträgt sich, wie bereits gezeigt wurde, auch auf den fiktiven Reiseerzähltext.

4.2. Fiktionalisierung des Robinson-Motivs: Weitere Hinweise auf das textuelle Umfeld der Vor- Defoeschen Robinsonade

Wie in der Reiseerzählung dieser Zeit allgemein üblich (siehe oben), ist auch das Robinson-Motiv in zahlreichen Texten wieder zu finden und nur schwer nach seinem Gehalt an Faktizität/Fiktionalität zu beurteilen.

Bestimmte Details wie zum Beispiel Nahrungsmittelbeschaffung, Hüttenbau oder bestimmte Umstände des Schiffbruches oder der Flucht von der Insel tauchen in verschiedenen Erzählungen auf und sind oft sehr ähnlich. Ein Austauschprozess von Ideen und Erzählmotiven war vermutlich rege, wobei die faktischen Ereignisse stets unterschiedlich stark fiktionalisiert wurden. Diese Tradition unterliegt nicht unbedingt einer zeitlichen Entwicklung. Berichte von Schiffbrüchen verbreiteten sich meist sehr schnell und wurden sofort textuell weiterverarbeitet. Im Folgenden soll anhand einiger Textbeispiele der Prozess der Fiktionalisierung faktischer Ereignisse aufgezeigt werden. Dieses wird später am Beispiel der Texte von Neville, Veiras und Smeeks auch geschehen. Da dort jedoch vorwiegend textuelle Beziehungen zu Ereignissen vor der Küste Australiens und deren Überlieferung untersucht werden, sollen hier ergänzend dazu einige andere fiktive Vor- Defoesche Robinsonaden und deren textuelle Beziehungen dargestellt werden, um einen Gesamteindruck über die verschiedenartige Fiktionalisierung des Motivs zu bieten. Außerdem kommen diese Texte auch als mögliche Quelle nachfolgender Robinsonaden in Betracht.

In Grimmelshausens Continuatio des Abenteuerlichen Simplizissimus (1669) wird vom Schiffbruch und der anschließenden fünfzehnjährigen Inselisolation des Simplex und eines Zimmermannes erzählt. Einerseits ist diese Erzählung übertrieben ereignisreich und sensationsorientiert, andererseits wird auch sachlich und realistisch von Einzelheiten der Inselsituation berichtet, die stark an faktische Erzählungen erinnern. So halten beide Figuren innere Einkehr und wenden sich zu Gott; Simplex legt einen Kalender an, indem er Kerben in einen Stamm schnitzt; beide Figuren machen naturwissenschaftliche Beobachtungen und töpfern sich Schalen (Brandl, 246-250). Die realistischen Schilderungen des tropischen Klimas und die Darstellung des inneren Wandels der Figur des Simplex haben darüber hinaus gewisse Ähnlichkeiten mit Defoes Text (Brandl, 250). Außerdem fertigte sich Simplex ebenso wie Crusoe und El-Ho (siehe Kapitel 7.3) Ton-Gefäße an und stellte sich Werkzeuge her. Möglicherweise griffen sowohl Defoe als auch Grimmelshausen auf ähnliche oder identische Quellen zurück.[7] Sowohl bei Grimmelshausen als auch bei Smeeks und Defoe taucht das Motiv des Pfahles als Kalender und Informationsspeicher auf. Vermutlich stammt dieses Motiv aus faktischen Reiseberichten über die Erkundung Australiens durch die Holländer und korrespondiert mit realen Begebenheiten. Dieser Umstand ist bei der ausführlichen Betrachtung von Smeeks´ Text genauer dargestellt.

Hier wird deutlich, dass Robinson-Erzählungen stark durch das textuelle Umfeld mitbestimmt wurden. Dieser Einfluss muss nicht notwendigerweise direkt gewesen sein, sondern war möglicherweise auch indirekt, nämlich wenn verschiedene Autoren auf gleiche oder ähnliche Quellen zurückgriffen. Auch trug der Inhalt und Stil von Quellentexten und Texten aus dem Entstehungsumfeld zu einem bestimmten „Entstehungsklima“ bei. So hielt man sich, wie deutlich wurde, beispielsweise an bestimmte stilistische Richtlinien. Auch die häufige Darstellung der Vernunftfähigkeit des Menschen und seines Gottglaubens verdeutlichen ein bestimmtes geistiges Klima, in welchem sich sowohl der Beobachter und Verfasser faktischer Ereignisse, als auch der Autor fiktiver Texte wieder fand.

Gleichermaßen interpretiert auch Fausett die Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Isolationserzählungen. So bezeichnet er den Text The Adventures of James Massey von Simon Tyssot de Patot als eine mögliche weitere Quelle Defoes. Dieser Text erschien 1710 in der französischen Erstausgabe und wurde 1733 (also nach dem Erscheinen von Robinson Crusoe) ins Englische übersetzt. In dieser Geschichte wird von der insularen Isolationssituation einer Gruppe erzählt und sowohl religiöse sowie philosophische Themen diskutiert. Ähnlich wie Crusoe schildert der Protagonist und Erzähler seine Suche nach dem richtigen Glauben und stellt religiöse und ökonomische Ideen der Zeit in Zusammenhang. Ob es einen direkten textuellen Bezug zwischen beiden Texten gab, ist ungewiss. Fausett sieht den möglichen Einfluß auf Defoe und sein literarisches Umfeld folgendermaßen:“ [This Text] is likely to have influenced, if not Defoe himself (who read French), at least the climate of ideas prevailing when he wrote Robinson Crusoe.“

Mitbestimmend für das literarische und auch geistige Umfeld der Robinsonade war zweifelsfrei auch der aus der arabischen Literatur des zwölften Jahrhunderts stammende Text The Improvement of Human Reason, Exhibited in the Life of Hai Ebn Yokdhan (1708) von Ibn Tufail.[8] Dieser Text trug möglicherweise auch zu einem Prozess der Fiktionalisierung des Robinson-Motivs bei, da hier die Isolationssituation als Rahmenbedingung für eine philosophische Aussage benutzt wird. Eine ähnlich kunstvolle, intentionale Benutzung des Motivs ist auch bei den unten analysierten Texten festzustellen, denen The Improvement of Human Reason als mögliche Quelle und Anregung gedient haben könnte. Diese philosophisch Erzählung nimmt gegenüber den anderen Robinsonaden eine Sonderstellung ein, da sie nicht der Tradition der Reisetexte entstammt. Dennoch findet man hier das Robinson-Motiv in seiner Idealform. In der dritten Person wird vom Leben der Figur Hai Ebn Yokdhan erzählt, welcher als Baby auf nicht genau geklärte Weise auf eine unbewohnte Insel gelangt und hier von einer Hirschkuh aufgezogen wird. Der Erzähler schildert dabei detailliert die geistige Entwicklung, die Hai während seines Lebens auf der Insel durchlebt und schildert auch dessen tiefsten Gefühle; er betrachtet die Welt vollständig durch die Augen der Figur Hai.

Allein durch die Fähigkeit zum reflektierten, logischen Denken, ist Hai in der Lage, seine Umwelt zu erkennen, zu gliedern und logisch zu erklären. Mittels seiner Beobachtungsgabe und der Erkenntnis seiner eigenen Vernunft gelangt er weiterhin sogar in einen Zustand der göttlichen Glückseligkeit und erbringt dank rationalen Denkens einen Gottesbeweis (128-131).

Best vermutet, dass Defoe diesen Text gekannt hat; beide Protagonisten bekleiden sich mit Fellen, treffen im Verlauf der Erzählung auf eine zweite Person, und beide Texte beinhalten eine konsequent durchstrukturierte, philosophische Linie. In beiden Fällen wird die Ansicht vertreten, dass der Mensch keine religiösen Dogmen braucht, um zu Gott zu finden, wenn er seine Vernunft benutzt (193-200).

Die Vernunfterkenntnis ist ein zentrales Thema in beiden Texten. Wie Hai findet auch Crusoe durch rationales, logisches Denken zu Gott. Auf die Ähnlichkeit zwischen beiden Texten verweist auch Novak; er macht darauf aufmerksam, dass die erste englische Übersetzung elf Jahre vor dem Erscheinen von Robinson Crusoe veröffentlicht wurde (24).

Die Bedeutung des Robinson-Motivs bei Tufail liegt aber nicht in der Schilderung des physischen Überlebens oder der Fiktionalisierung und dem Tradieren faktischer Erzählungen. Vielmehr ist die Darstellung der geistigen Entwicklung des Hai und der philosophische Hintergrund des Textes als Vorbild für das Robinson-Motiv bei Defoe von Relevanz. Selbst wenn direkte Beziehungen zwischen beiden Texten unbeachtet bleiben, so ist die Bedeutung von Tufails Erzählung für die Philosophie der Aufklärung und das geistige Umfeld Defoes sehr wichtig. Wie Best deutlich macht, spiegelt dieser Text den Zeitgeist des arabischen Spaniens des zwölften Jahrhunderts wider. Hier herrschte eine geistige „Blütezeit“. Wissenschaftliches, methodisches Forschen nach dem Vorbild griechischer Philosophie unter anderem auf den Gebieten Mathematik, Religion und Philosophie wurde hier bereits praktiziert. Aus diesem geistigen Umfeld erwuchs einerseits die Philosophie der Scholastik, andererseits ist die Logik und Vernunfterkenntnis dieser Zeit Grundlage für die Philosophie der Aufklärung des siebzehnten Jahrhunderts gewesen (171-188). Daher ist die philosophische Grundlage des Tufail- Textes den Ideen der Aufklärung, welche bei Defoe zu finden sind, sehr ähnlich. Seine Erzählung war somit zu Defoes Zeit höchst aktuell und beeinflusste das geistige Umfeld der Zeit und somit auch die aufklärerische Ausgestaltung des Robinson-Motivs bei Defoe und vielen Vor- Defoeschen Robinsonaden.

Episodisch ist das Robinson-Motiv auch im Text Hendrik Smeeks zu finden. Diese Erzählung war vermutlich eine Hauptquelle Defoes. Ähnlichkeiten zwischen der bei Smeeks beschriebenen Isolationssituation von El-Ho und Robinson Crusoe sind ebenso zahlreich wie zwischen Selkirk und Crusoe. Tatsächlich findet man auch Ähnlichkeiten zwischen dem Robinson-Motiv bei Smeeks und der Selkirk- Geschichte, obwohl Smeeks diese keinesfalls gekannt haben kann. Smeeks benutzte andere Quellen für seine Erzählung. Diese werden unten noch dargestellt.

Die faktischen Reiseerzählungen, die allgemein bekannt waren, bildeten einen bestimmten Ideen- und Ereignisrahmen für fiktive Erzählungen. Textuelle Dynamiken zwischen Reiseerzählungen unterschiedlichen Fiktionalisierungsgrades und die geistige Situation des Wandels sorgten für eine bestimmte Rahmenbedingung für die Darstellung der Isolationssituation. Ähnlichkeiten zwischen Vor- Defoeschen Robinsonaden sind daher strukturell bedingt. Wer von wem abschreibt und wer welche Quelle auf welche Art und Weise verändert, ist nicht allein ausschlaggebend für die Dynamik des Robinson-Motivs. Textuelle Beziehungen, die über den direkten Bezug zwischen zwei Texten hinausgehen, sind ebenso wichtig, da sonst das textuelle Umfeld mit seinen dynamischen Prozessen für die Genese dieses Motivs unterschätzt wird.
5. Die Bedeutung der holländischen Australien-Aktivitäten für die Robinsonade bis Defoe

[1] Der Begriff „Robinson-Motiv“ ist ein Arbeitsterminus; er ist hier sehr offen gefasst und beschreibt alle Isolationssituationen von Einzelnen oder Gruppen auf Inseln.

[2] In Robinson Crusoe wird dieses Wiedersehen folgendermaßen beschrieben: “[…] it would have moved any one to tears, to have seen how Friday kissed him, embraced him, hugged him, cry´d, laughed, hollowed, jumped about, danced, sung, and then cry´d again, wrung his hands, bear his own face and head, and then sung and jumped about again, like a distracted creature“ (237-238).

[3] Der Originaltext steht mir leider nicht zur Verfügung. Die Selkirk- Episode aus Rogers Text ist aber unter anderem bei Ross komplett zitiert. Hier ist auch die unten erwähnte Fassung von Richard Steele abgedruckt (303-306).

[4] Novak macht deutlich, dass das Gefühlsleben Selkirks faktisch unbekannt ist und dass die nüchterne Beschreibung Rogers auf unterschiedliche Art und Weise interpretiert wurde. Einerseits wurde angenommen, dass Selkirk in der Isolation sehr glücklich gewesen ist, da er den Lastern der Zivilisation den Rücken zuwenden und innere Einkehr halten konnte. Diese Ansicht scheint auch Steele zu vertreten. .Andererseits glaubte man, Selkirk sei in einen animalischen Zustand zurückgefallen und habe sogar seine Sprache verloren.(33)

[5] Steele, beispielsweise, erzählt von Selkirks Seelöwenjagd. Hier steht nicht die Jagd selber oder die Verwertung der Seelöwen im Mittelpunkt der Erzählung, sondern die Schilderung von Selkirks rationalem Gedankengang, der zur richtigen Jagdmethode führt und ihn damit dem Tier überlegen macht: “For observing, that though their Jaws and Tails were so terrible, yet the Animals being mighty slow in working themselfes round, he had nothing to do but place himself exactly opposite their Middle, and as close to them as possible, and he dispatched them with his Hatched at Will“ (Ross, 309).

[6] Hunters Auffassung wird allgemein kaum Bedeutung beigemessen. Darüber hinaus verkennt er den Umfang des textuellen Vorfeldes und der dynamischen Beziehungen von Reiseerzählungen untereinander. Tatsächlich reichen textuelle Prozesse nämlich sogar noch bis weit über die Selkirk- Geschichte hinaus zurück.

[7] Brandl erkennt zwar zahlreiche Parallelen, kann sich jedoch nicht vorstellen, dass Grimmelshausens Text als Quelle Defoes diente. Er untersucht diesen Punkt aber nicht genauer. Fausett zieht im Gegensatz dazu auch die Möglichkeit in Betracht, dass Grimmelshausens Text eine gemeinsame Quelle von Smeeks und Defoe gewesen sein könnte (Strange Sources, 176). Reichert ist der Überzeugung, dass Grimmelshausen den Text Nevilles als Quelle benutzte, welcher somit eine gemeinsame Quelle Defoes und Grimmelshausens gewesen sein könnte (58).

[8] Die hier verwendete deutsche Übersetzung von 1987 trägt den Titel Der Ur-Robinson.

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