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Den eben erwähnten Umstand kann an der Bedeutung der holländischen Entdeckungsreisen vor der Küste Australiens deutlich gemacht werden. Die holländischen Aktivitäten bestimmen nämlich das textuelle Umfeld, aus welchem heraus die Robinsonade entsteht, maßgeblich mit und liefern neben dem schon erwähnten Robinson-Motiv viele weitere Erzählmotive, welche die Erzählungen der Wegbereiter Defoes prägen. Fausett sieht hier eine mögliche gemeinsame Quelle vieler Robinsonaden. Seiner Meinung nach bilden nicht die Isolationssituationen einzelner Seeleute die Basis für das Robinson-Motiv, sondern die Tradition der Australien-Aktivitäten Hollands. Diese Ereignisse spiegeln sich in den Erzählungen Nevilles, Veiras und Smeeks wieder. [1] Fausett meint, dass deren Erzählungen einen größeren Gehalt an Faktizität haben, als bisher angenommen. Da Smeeks Text laut Fausett die Hauptinformations- und Ideenquelle für Defoe ist, lassen sich die Australien-Ereignisse auch bei Defoe, in fiktionalisierter Form und mit anderen Textelementen vermischt, wieder finden. Die oben genannten faktischen Erzählungen Rogers, Dampiers und Knoxs boten Fausetts Meinung nach Smeeks und Defoe zwar viele faktische Informationen wie detaillierte Landschaftsbeschreibungen und realistische Beschreibungen von Lebensumständen in Isolation; dennoch ist die Robinsonade maßgeblich aus den historischen Ereignissen um Australien abzuleiten (Strange Sources, 93, 197). Dieser Umstand würde die Ähnlichkeiten zwischen Smeeks´ und Defoes Text (die nicht auf der Selkirk- Geschichte beruhen können) erklären. Daher werden diese Australien-Aktivitäten kurz dargestellt. In der anschließenden Analyse der einzelnen Robinsonaden wird auf den jeweiligen Bezug detailliert hingewiesen.

Folgende historische Ereignisse sollen laut Fausett für die Grundlage einer regen Dynamik textueller Prozesse gesorgt haben: Im Jahre 1626 lief das im Dienste der holländischen Überseehandelsvereinigung VOC[2] nach Java segelnde Schiff „Batavia“ wegen eines Navigationsfehlers auf dem so genannten „Houtman´s Abrolhos“-Riff vor der australischen Westküste aufgrund. Der Kapitän des Schiffes segelte in einem Beiboot mit einem kleinen Teil der Mannschaft nach Java, um in Batavia Hilfe zu holen. Der Rest der Mannschaft und die Passagiere, unter welchen sich auch Frauen und Kinder befanden, blieben zurück. In Abwesenheit des Kapitäns begann unter den zurückbleibenden Seeleuten eine Meuterei, in deren Verlauf einige Passagiere ihr Leben ließen und an Bord befindliche Frauen versklavt wurden. Einer Rettungsmannschaft gelingt die Befreiung der Frauen und die Bestrafung der Meuterer (Fausett, Mighty Kingdom, XXIV; Tall Ships, 61).[3]

Dieser Vorfall wurde in Holland sehr schnell bekannt. Informationen über dieses Ereignis waren begehrt und lösten einen Boom von Erzählungen darüber aus. In Nevilles Text sind viele Parallelen zu diesem Ereignis zu finden, so dass angenommen wird, dass die „Batavia“- Vorkommnis die Grundlage für seinen Text bildeten.

1668 verlor die VOC das Schiff „Vergulde Draeck“ ebenfalls vor der Westküste Australiens.[4] Der zweite Offizier holte per Beiboot Hilfe aus Batavia, doch die achtundsechzig zurückgebliebenen Seeleute waren bei der Ankunft der Rettungsexpedition, die mit den Schiffen „Waeckende Boey“ und „Emeloordt“ durchgeführt wurde, verschwunden (Fausett, New World, 89-105).

Offizielle Berichte über diese Ereignisse blieben geheim und gelangten nicht an die Öffentlichkeit. Sowohl die „Batavia“- Ereignisse als auch die genauen Vorfälle um die „Vergulde Draeck“ und die Rettungsaktion der „Waeckende Boey“ und der „Emeloord“ blieben unveröffentlicht. Erst die Australienreisen des Admirals De Vlaming 1696-97 wurden wieder in Form eines anonymen Berichtes veröffentlicht („Nijptang Journal“, siehe unten) und lieferten Details über die Flora und Fauna der Westküste (Fausett, Tall Ships, 63). Die Informationsblockade der Behörden hatte aber ein „Aufblühen“ der realistischen Reiseerzählung und insbesondere der Australien-Motive zur Folge (Fausett, New World, 2; Strange Sources, XXXIV). Fausett vermutet, dass trotz der Informationssperre Erzählungen über die Ereignisse an die Öffentlichkeit gelangten, die sich zunächst oral verbreiteten. Die in Kapitel 3.1. dargestellte Erzählung Iversens aus der Textsammlung Happels bestätigt diese Vermutung. Seeleute, die an den Rettungsexpeditionen teilgenommen haben, haben vermutlich von ihren Erlebnissen erzählt, so dass eine orale Erzähltradition entstand. Spekulationen vermischten sich mit faktischen Erzählungen und verbreiteten sich. Da Nachrichten über die Australien-Ereignisse sehr begehrt waren, war der Boden für eine orale Verbreitung von Erzählungen bereitet. Smeeks, Veiras und Neville haben diese oral überlieferten Informationen für ihre Erzählung verwertet. Smeeks lebte in Holland und hatte dadurch auch Zugriff auf die dort existierende orale Erzähltradition. Aber auch Veiras könnte während eines diplomatischen Besuches für die britische Regierung 1672 in Holland an oral überlieferte Informationen gekommen sein. Ebenso war Defoe für eine kurze Zeit in Holland (Fausett, Tall Ships, 65).

Oral überlieferte Informationen über Ereignisse während des „Batavia“- Unglücks und der späteren Seereisen lassen sich daher in fiktionalisierter Form in den Reiseerzählungen wieder finden.[5]

Hier liegt Fausetts Meinung nach auch der Ursprung des bei Veiras und Smeeks anzutreffenden Motivs des Kulturkontaktes zur Urbevölkerung. So könnte es nach dem Schiffsunglück der „Vergulde Draeck“ zu einem Kontakt der zurückgebliebene Seeleute mit den Ureinwohnern gekommen sein; ein derartiges Ereignis wird in der Utopie von Veiras dargestellt und könnte auf historischen Vorfällen basieren. Zahlreiche später noch dargestellte Details im Erzähltext Veiras weisen auf diese Möglichkeit hin.

Zumindest war aber schon allein die Tatsache, dass eine gesamte Schiffsbesatzung in Australien ihr Überleben organisieren musste, ein mögliches Vorbild für die Utopie von Veiras, der nämlich genau darüber berichtet.

Fausett hält es auch für möglich, dass ein Überlebender des Schiffbruches der „Vergulde Draeck“ mit Hilfe indonesischer Fischer, die jährlich an der australischen Nordküste Seegurken für den chinesischen Markt sammelten, nach Indonesien und somit über Batavia nach Holland gekommen sein könnte; die bei Smeeks geschilderten Ereignisse könnten auf einer überlieferten Erzählung über einen solchen Vorfall basieren (Mighty Kingdom, XXXI). [6]

Die Australien-Ereignisse tauchen als Erzählmotive in Smeeks´ und Veiras´ Texten auf und bilden hier die Rahmenhandlung. Auch Nevilles Isle of Pines steht in engem Zusammenhang mit den Australien-Ereignissen (siehe unten). Da Defoe Smeeks´ und Veiras´ Erzählungen, wie noch deutlich wird, maßgeblich mitbenutzte, indem er viele faktische Elemente übernahm und in fiktionalisierter Form wiedergab, wirken sich die Australien-Ereignisse auch noch auf Robinson Crusoe aus. Es wird deutlich, dass die Geschehnisse vor der Küste Australiens als Erzählmotiv verwendet wurden und im Rahmen einer textuellen Überlieferung einem Fiktionalisierungsprozess unterliegen. Diese Dynamik bestimmt die Vor- Defoesche Robinsonade maßgeblich mit.
6. Von der Utopie zur Robinsonade

[1] Allgemein war das Australien-Motiv als Schauplatz für eine Erzählung sehr verbreitet. Auch in Grimmelshausens Text, beispielsweise, verschlägt es die Schiffbrüchigen in unbekannte Gewässer vor Australien: „[…] also daß wir das Gestirn sehen konnten / an welchem wir vermerkten / daß uns der Wind je länger je mehr von der Seiten Africae in das weite Meer gegen Terram Australem incognitam hinein triebe / welches uns beide sehr bestürtzt machte […]“(86).

[2] Die Vereenigde Ostindische Compagnie VOC wurde 1601 gegründet und hatte in Holland das Monopol für den Seehandel im Pazifik und im Indischen Ozean. Batavia, zuvor Jacatra genannt (heute Jakarta), war ihr wichtigster Handelstützpunkt in Asien.

[3] Vor einigen Jahren wurde das Wrack der Batavia geborgen und diente als Vorbild für einen authentischen Nachbau des Seglers.

[4] Die Jahreszahlen werden in verschiedenen Texten etwas unterschiedlich angegeben.

[5] Diese Art der Datenübertragung war recht neu. Daher sieht Fausett hier auch den Ursprung des modernen Journalismus, da Augenzeugen, zumeist illiterate Seemänner, als Hauptinformationsquelle für die textuelle Formulierung von Informationen benutzt wurden. Daten wurden hier nicht mehr nur mittels Text übertragen; der oralen Überbringung von Daten kommt vielmehr eine neue Bedeutung zu, bei der gesellschaftliche Grenzen keine Rolle spielten (Tall Ships, 65).

[6] Bleiler hält diese These für zu spekulativ (226). Dieser Meinung schließe ich mich an, obwohl einige Indizien in den Texten von Smeeks und Veiras für eine solche Möglichkeit sprechen könnten. Diese Punkte werden aber später noch detailliert genannt.

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