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Am 25.April 1719 erschien Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe von Daniel Defoe als erster Teil einer Trilogie. Der Text wurde zu einem großen Verkaufserfolg, und der Erstausgabe folgten sehr bald weitere Auflagen und Übersetzungen. Die Erzählung handelt von der Geschichte des Robinsons Crusoe aus York, der England verlässt und während einer Geschäftsreise an der afrikanischen Küste in Gefangenschaft gerät. Zusammen mit einem Sklaven gelingt die Flucht. Während einer Überfahrt von Brasilien nach Afrika erleidet er Schiffbruch und muss zunächst allein auf einer Insel vor der Mündung des Orinokos sein Überleben organisieren. In Isolation lebt er seine „Kultur“. Nach achtundzwanzig Jahren in Einsamkeit rettet Crusoe den Schwarzen „Freitag“ vor dem Tod durch kannibalische „Wilde“, die auf seiner Insel einfallen. Beide leben fortan gemeinsam dort. Trotz kultureller und intellektueller Unterschiede wird Freitag in Crusoes Kultur assimiliert. Der Schilderung der kulturellen und religiösen Werte Crusoes und seiner Vernunftbegabung im Vergleich zu jener Freitags kommt in der Erzählung eine besondere Bedeutung zu. Nach insgesamt fünfunddreißig Jahren gelingt es Crusoe, die Insel zu verlassen.

Das literarische Motiv einer Person oder Gruppe in Isolation auf einer Insel verbreitete sich nach dem Erscheinen von Crusoe sehr schnell und wird in unterschiedlich starker Anlehnung an Defoes Text imitiert und variiert. Insbesondere in Deutschland kommt es zu einem Robinson-Boom.: “Durch das Vorbild Defoes´ Robinson Crusoe in Bewegung gesetzt, regnet es mehrere Decenien des verflossenen Jahrhunderts hindurch Robinsonaden ohne Zahl“ (Haken, Bd.1, III).

Defoes Text reflektiert zahlreiche geistige Veränderungen des siebzehnten Jahrhunderts (Watt, The Rise of the Novel, 24). Die Expansion Europas und der damit verbundene Kulturkontakt gingen einher mit einer kompletten Veränderung des Weltbildes.[1] Robinson Crusoe ist ein Indiz dieses Wandels; der Text wird oft auch als Meilenstein der frühen Aufklärung bezeichnet. Er spiegelt bestimmte „Trends“ wider, die einerseits Symptome und andererseits aktive Faktoren eines Prozesses der Globalisierung der Welt sind ( Fausett, Writing the New World, 160).

So ist beispielsweise das Erzählmotiv des Kulturkontaktes und das dadurch vermittelte Bild des „Wilden“, gleichzeitig Symptom und Faktor eines Prozesses der Klassifikation fremder Kulturen und des daraus resultierenden Kulturvergleichs. Auch steht dem Wandel der englischen Gesellschaft zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts und der gesellschaftlichen Genese des mittelständischen „Individualismus“ das narrative Äquivalent des “Common Hero“ gegenüber, als welcher Crusoe erscheint. Auch die geistige Haltung und philosophische Überzeugung, welche auf verschiedene Art und Weise durch die Figur Crusoe zum Tragen kommt, spiegelt geistige Tendenzen der Zeit wider: So wird er als ein durchschnittlich gebildeter, mittelständischer, puritanischer Unternehmer dargestellt, der es durch sein rationales Denken und Handeln schafft, in Isolation zu überleben. Crusoe sieht sich in eine Situation des „Naturzustandes“ versetzt: “´I was in a mere state of nature´“ (Hunter, 22). Hier zeigt er idealtypisch, wie er seine Umwelt erkennt, strukturiert und beherrscht, ohne auf die Gesellschaft oder kirchliche Institutionen oder Dogmen angewiesen zu sein. Er erscheint als selbständiges, unabhängiges, dem gesunden Menschenverstand folgendes Individuum; Die Isolationssituation dient in dieser Erzählung dazu, diese Qualitäten der Figur Crusoe idealtypisch darzustellen. Durch eine bestimmte Erzähltechnik und verschiedene stilistische Mittel, wird der realistischen Erzählung der Anschein von Authentizität verliehen.

Viele Motive, die in dieser Erzählung verwendet werden, sind sowohl in fiktiven, als auch in faktischen Reiseerzählungen vor Defoe zu finden, so zum Beispiel das Erzählmotiv des Kulturkontaktes und das Robinson-Motiv.[2] Auch die erzählerischen Mittel, die Defoes Text prägen, sind in älteren Reisetexten zu finden und haben eine ganz bestimmte Tradition. Ebenso sind die geistigen Veränderungen der Zeit, die sich in seinem Roman manifestieren, schon vorher in bestimmten Erzähltexten zu finden.

In dieser Arbeit soll die Entstehung und die geschichtliche Entwicklung der literarischen Gattung der „Vor- Defoeschen Robinsonade“ untersucht werden, um die Wurzeln der Erzählung Defoes aufzuzeigen. Es wird untersucht, inwieweit sowohl der Geisteshaltung der Figur Crusoe, als auch den Erzählmotiven und erzählerischen Mitteln von Defoes Crusoe in verschiedenen Vor- Defoeschen Texten der Weg bereitet wird. Diese sind daher der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Es soll die Frage geklärt werden, welche Zusammenhänge zwischen Robinson Crusoe und Vor- Defoeschen Texten wie Reiseberichten, Utopien und „Robinsonaden“ existieren. Dabei wird gezeigt, dass die „Vor- Defoesche Robinsonade“ und, daraus resultierend, Defoes Erzählung sowohl inhaltlich als auch erzählerisch von der Tradition der Seereiseerzählung stark beeinflusst wurde. Daher werden schwerpunktmäßig sowohl faktische als auch fiktive Seereiseerzählungen untersucht. Es soll deutlich werden, dass Defoes Text von einer bestimmten Dynamik textueller Prozesse beeinflusst wurde: der realistische Erzählstil, die Erzähltechnik, die Erzählmotive und die philosophischen Ideen des Textes entstammen aus einer bestimmten Erzähltradition. Diese wird anhand textueller Prozesse zwischen Vor- Defoeschen Reiseerzählungen aufgezeigt. Die hier zu findenden Verbindungen verschiedener Texte sind zahlreich. Letztendlich erscheint der Text Defoes als eine Genese unterschiedlicher Faktoren. In dieser Arbeit werden jene Faktoren aufgezeigt, die sich schon vorher textuell manifestieren.

Dieser Anspruch kann nur erfüllt werden, wenn dabei der Zusammenhang zwischen textuellen Prozessen und der übergreifenden Dynamik des sich wandelnden Weltbildes stets berücksichtigt wird. Alle Texte werden deshalb in ihrem geschichtlichen, sozialen und philosophischen Zusammenhang betrachtet. So können auch Beeinflussungsfaktoren aus dem sozialen, philosophischen und ideologischen Umfeld des Textes mit berücksichtigt werden. Dieses geschieht mit einer literatursoziologischen und geschichtlich-deskriptiven Vorgehensweise. [3]

Diese Methode ist der Arbeitsweise des Robinsonade-Experten Fausett ähnlich und entspricht seinem Textverständnis. Er untersucht in mehreren Arbeiten die historischen, textuellen und ideologischen Quellen Defoes und sieht aufgrund seiner vielschichtigen Untersuchung die Kreation des Textes als eine Genese eines vielschichtigen literarischen und sozialen Prozesses an: “The Robinson-Story has universal value and its creation was a similarly global enterprise“ (Strange and Surprising Sources of Robinson Crusoe, 195).[4]

Ein kurzer Überblick über die unterschiedlichen Ansätze der Crusoe- und Robinsonade-Interpretation und deren Geschichte soll meinen Ansatz noch einmal verdeutlichen, meine Vorgehensweise erklären und die unten dargestellte Auswahl der zu untersuchenden Texte rechtfertigen.

Zu unterschiedlichen Zeiten wurde Crusoe stets unterschiedlich interpretiert. Im Jahre 1805 setzt sich J.C.L. Haken in seinem Text Bibliothek der Robinsone literaturwissenschaftlich mit dem Robinson-Motiv auseinander[5]. Er versucht eine Übersicht über alle Texte, die mit diesem Motiv der Isolation auf einer Insel in Verbindung gebracht werden können, zu geben und trägt dazu bei, dass sich die „Robinsonade“ als eigenständige literarische Gattung etabliert. Haken teilte die Texte in „Vor- Defoesche“ und „Nach- Defoesche“ Robinsonaden auf. Als Vor- Defoesche Robinsonaden bezeichnete er das textuelle Erscheinen des Motivs der Isolation einer Gruppe oder einzelner Personen vor dem Jahre 1719. Diese Texte zieht er als mögliche textuelle Quelle Defoes in Betracht, ohne aber diese Frage näher zu untersuchen. Bei der Definition der Nach- Defoeschen Robinsonade orientiert er sich am Text Defoes. Dieser sollte seiner Meinung nach das Vorbild aller Robinsonaden sein, da er den Fortschritt der Kultur des modernen, wissenschaftlich-rationalistischen Menschen darstellt: „Robinsons Geschichte ist die Geschichte der Menschheit und seiner fortschreitenden Kultur im Kleinen“ (Haken, Bd1, VI). Selbst noch im Licht der Aufklärung stehend, definierte Haken die Robinsonade als „Gemälde der Kraftanstrengung des Menschen, welche der Mensch in einer isolierten Lage äußert, um – jetzt im Kampf mit der allgemeinen Not – seine bloße Existenz zu sichern“(Haken, Bd 1, VI). Alle von ihm untersuchten Texte wurden nach diesem Kriterium untersucht.

Scott (1817) und Coleridge (1830) sahen Crusoe ebenfalls als künstlerische Ausformulierung der Schönheit des fortschrittlichen Menschengeschlechtes an (White, 125).

Mit dem Fortschreiten der Industrialisierung sahen Kritiker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Person Crusoes den typischen mittelständischen englischen Unternehmer verkörpert. Sir Leslie Stephens interpretiert Crusoe im Jahre 1868 als Darstellung eben dieses Bildes des „John Bull“. Er sieht die Beschreibung der Isolationssituation auf der Insel als Beleg für die Durchsetzungsfähigkeit des typischen Engländers an (White, 126). William Minto sieht in Crusoe die nationale Ideologie der Briten repräsentiert, die ebenfalls dem Bild des „John Bull“ entspricht: “We are a nation of shopkeepers“ (White, 126).[6] Textuelle Verbindungen zu Vorläufern von Crusoe wurden zu dieser Zeit noch nicht untersucht. Im Laufe dieser Arbeit wird die Beziehung dieses Bildes zu bestimmten textuellen Entwicklungen deutlich. Vorläufer dieses Bildes, die zur Genese desselben beigetragen haben, sind schon in Vor- Defoeschen Texten zu finden.

In Deutschland etablierte sich die Robinsonade als eigenständige Gattung stärker als in Großbritannien. Hier setzte sich auch die nähere Beschäftigung mit möglichen Quellen Defoes und vor allem mit den „Gattungskriterien“ der Robinsonade fort, die mit Haken ihren Anfang nahm. Beides wurde bei Brandl genauer untersucht, welcher das Motiv der Isolation in altertümlichen Quellen darstellt. Er stellt fest, dass die hier zu findenden Isolationsgeschichten meist nur Episoden einer umfassenderen Erzählung sind. Handlung und Erzähltechnik unterscheiden sich von Defoes Crusoe sehr; vor allem fehlt es ihnen laut Brandl an „Realismus“ und Abenteuercharakter, um als „echte Robinsonade“ gelten zu können. Zwar bezeichnet er diese Texte dennoch als Vor- Defoesche Robinsonade, misst ihnen aber keine Bedeutung als Quelle Defoes bei.[7] Darüber hinaus untersucht Brandl auch historische Schiffbrüche, Reiseberichte und unterschiedliche fiktive Texte, die vor 1719 erschienen sind und bewertet sie entsprechend der oben genannten Kriterien Hakens als gelungene oder weniger gelungene Robinsonade.[8] Nur am Rande macht er auf ihren Wert als Quellen von Defoe aufmerksam. Zwar stellt er einen Zusammenhang zwischen der Zunahme des englischen Überseehandels und dem damit einhergehenden häufigeren textuellen Erscheinen des Robinson-Motivs fest, detaillierte Untersuchungen unterbleiben aber (254-264).

In Deutschland entwickelt sich der Trend, Kriterien zur Gattungsbestimmung in den Vordergrund der Untersuchung zu stellen. Obwohl Ullrichs (1898) Trennung in 1) Robinsonade, 2) apokryphe Robinsonade, und 3) Pseudo-Robinsonade noch bis heute Bestand hat, versuchen Reckwitz (1976) Fohrmann (1981) und Stach (1991) eben diese Kriterien noch zu verfeinern und exaktere Gattungsparadigmen in Abgrenzung zu anderen literarischen Gattungen zu formulieren.[9] Die in dieser Arbeit verwendeten Arbeitstermini wie „Vor- Defoesche-“ und „Nach- Defoesche Robinsonade“ und „Robinson-Motiv“ sind weitestgehend aus ihren Arbeiten übernommen. Hier sind sie aber als offene Begriffe zu verstehen, deren Bedeutung sich jeweils aus dem entsprechenden Zusammenhang heraus ergibt.

Im englischen Sprachraum wird diese Gattungsproblematik nicht diskutiert. Hier findet man zahlreiche Interpretationen Crusoes, die bestimmte Teilbereiche betreffen, wie die religiöse oder ökonomische Thematik oder die literaturgeschichtliche Bedeutung. Diese werden mehr oder weniger losgelöst vom restlichen textuellen Zusammenhang und mit unterschiedlichen Interpretationsmethoden untersuchen. Paul Hunter, beispielsweise, misst bei seiner Analyse der Quellen Defoes den Reisebeschreibungen keine große Bedeutung bei und sieht vor allem in der religiösen Literatur der Puritaner und deren religiösem Symbolismus die Quellen Defoes verborgen.[10]

Ian Watt analysiert Crusoe und seine Bedeutung für die Gattung des Romans in The Rise of the Novel und stellt dynamische Beziehungen zu zeitgenössischen Philosophen und deren Bedeutung für die Entstehung des „Realismus“ und des „Individualismus“ im Erzähltext dar. Er sieht die Entstehung von „Charakter“ und „Individualität“ von Figuren im Erzähltext in einem größeren historischen und geisteswissenschaftlichen Zusammenhang und betont den ökonomischen Aspekt des Textes. Er sieht in Crusoe vor allem einen Vorreiter für nachfolgende fiktive Texte und den Roman als literarische Gattung. Die Ursprünge diese literarischen Trends, die nämlich bereits vor Defoe zu finden sind, lässt er jedoch weitgehend unberücksichtigt.

Diese finden jedoch Beachtung in den Texten von Adams und Fausett und steht auch im Mittelpunkt dieser Arbeit. Beide stellen dynamische Prozesse verschiedener historischer Reiseerzählungen und deren Verhältnis zu fiktiven Erzähltexten sehr ausführlich dar. Mögliche Beziehungen historischer Ereignisse und sozialer Veränderungen zu Erzähltexten werden analysiert und textuelle Beziehungen verschiedener Erzähltexte zueinander detailliert beschrieben. Diese Arbeitsweise dient auch in dieser Arbeit dazu, sich den textuellen Vorläufern Defoes zu nähern. Durch die Analyse verschiedener, vielschichtiger Verbindungen ergibt sich ein Gesamtbild einer Dynamik, die durch die Untersuchung folgender Texte dargestellt wird.[11]

Als erstes wird ein Blick auf die Sammlung von Reiseerzählungen The Principle Navigations, Voyages and Discoveries of the English Nation (1598-1600) von Richard Hakluyts geworfen. Beschreibungen aus diesen Erzählungen dienten nachfolgenden Autoren als Quelle und lassen sich in unterschiedlicher Weise in späteren Texten wieder finden. Des Weiteren lässt sich in Hakluyts Textsammlung eine bestimmte Erzählstruktur erkennen, die den Beginn des „Individualismus“ in der Reiseerzählung markiert und sowohl diese Gattung als auch die Robinsonade bis Defoe prägt.

Dieser Prozess wird durch Wechselwirkungen zwischen Hakluyts Textsammlung und sozialen und politischen Veränderungen mitbestimmt.

An den Reisetexten William Dampiers (1691) und Robert Knoxs (1681) kann ein Wandel in der Intention von Reisebeschreibungen erkannt werden, der sich auf die Erzählmittel niederschlägt und mit dem wachsenden wissenschaftlichen Interesse an Reisetexten in Verbindung steht. Hier entsteht der Erzählmodus der „neuen Sachlichkeit“, der in vielen fiktiven Reisetexten wieder zu finden ist und sich hier zum „Realismus“ verdichtet. Es wird deutlich, dass faktische Reiseerzählungen sowohl inhaltlich als auch stilistisch und erzähltechnisch Einfluss auf fiktive Reiserzählungen hatten.

Auch Wechselwirkungen zwischen Reisetexten und Philosophie, die wichtige Auswirkungen auf die Schaffung von fiktiven Texten hatten, lassen sich hier feststellen. Daher sind diese Texte als Wegbereiter Defoes sehr relevant.

Fiktive Reisetexte des späten siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhunderts, die faktischen Reisetexten nachempfunden sind, tragen dazu bei, dass die Grenzen zwischen „Fakt“ und „Fiktion“ verschmelzen. Es ist daher notwendig, einen Blick auf den unterschiedlichen Fiktionalisierungsgrad verschiedener Reisetexte zu werfen und auf die verschiedenartige Verarbeitung historischer „Fakten“ in fiktiven Texten aufmerksam zu machen. Die hier untersuchten textuellen Dynamiken werden das Entstehungsklima verdeutlichen, in dem sich die Robinsonade konstituiert.

Historische Ereignisse, in verschiedenen Reisetexten überliefert, sind Quellen nachfolgender Erzählungen. Daher werden kurz historische Schiffbruchsituationen und Isolationssituationen einzelner Seeleute nachgezeichnet und ihre Bedeutung für fiktive Erzählungen untersucht. Hier wird auch die textuelle Tradition des Robinson-Motivs aufgezeigt.

An den Texten Isle of Pines von Henry Neville (1668), Ein Historie der Neu=gefunden Voelker Sevarambes genannt (1689) von Denis Veiras und The Mighty Kingdom of Krinke Kesmes (1708) von Hendrik Smeeks werden textuelle Zusammenhänge zu faktischen Reisebeschreibungen und anders überlieferten historischen Ereignissen detailliert dargestellt. Das gemeinsame Motiv des Schiffbruches und der Kulturbegegnung, Ähnlichkeiten in der Erzähltechnik, unterschiedliche textuelle Rezeption philosophischer und politischer Positionen und später dargestellte weitere Faktoren geben konkrete Auskunft über textuelle Verbindungen zu Defoes Crusoe. So, beispielsweise, hat laut Fausett der „Realismus“, der in der Robinsonade des achtzehnten Jahrhunderts seine Blütezeit erlebt, seinen Anfang in den Utopien Foignys und Veiras (New World, 175). [12]

2. Reisetexte

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[1] Heinrich Rombach schildert in Strukturanthropologie den Übergang der mittelalterlichen Substanzenontologie zur Systemontologie. Diese nimmt mit den astronomischen Systemkonzepten von Kopernikus und Galilei ihren Anfang und wird durch Descartes weiterentwickelt. Seine Trennung in Weltsystem und Geistessystem hat zur Folge, dass die Welt rational und logisch erklärbar und individuell erfahrbar wird. „Sein“ kann durch „Rationalität“ erklärt werden. Im Folgenden gewinnt das Experiment als Methode der Erweiterung der Rationalität an Bedeutung; die moderne „Forschung“ nimmt ihren Anfang. Im Gegensatz zur statischen Substanzenontologie ist der Systemgedanke dynamisch. Der Mensch wird nicht mehr als unveränderbare, fest gefügte Einheit gesehen, sondern als Teil eines Systems, in dem sich erstmals Gegensätze wie Körper/Geist, Individuum/Gesellschaft, Natur/Kultur manifestieren. „Entwicklung“ ist möglich. Laut Rombach griff der Systemgedanke “wie ein Flächenbrand um sich. In allen großen Städten Europas bildeten sich Gesellschaften und ´Salons´, in denen kleinere und größere wissenschaftliche Entdeckungen gemacht wurden, indem man von der Substanzeninterpretation zur Systeminterpretation überging“ (41). Die „Aufklärung“ als Selbsterhellung des Geistes durch Rationalität bildet das erste systemantropologische Gesellschaftskonzept, welches stark durch den überseeischen Kulturkontakt in seinem Entstehen beeinflusst wurde.

[2] Mit dem Begriff „faktische Reiseerzählung“ sind Augenzeugenberichte gemeint; der Autor des Textes gibt die persönlich und real erlebten Begebenheiten in einer von ihm selbst verfassten Ich-Erzählung wieder. Bei „fiktiven Reiseerzählung“ handelt es sich um erfundene Erzählungen, die einen unterschiedlichen Bezug zu realen Begebenheiten haben können. Dieser Unterschied wird in einem späteren Kapitel noch detaillierter dargestellt.

[3] Fausett macht darauf aufmerksam, dass zur Entstehungszeit Crusoes Ideologie und Weltbild in physischer und psychischer Hinsicht anders war als heute. So war zum Beispiel „Wissen“ noch nicht in die Fächer der modernen Wissenschaften aufgeteilt und unterlag anderen Dynamiken als heute. Reisebeschreibungen standen beispielsweise der Ethnographie, Geologie, Meteorologie, Astronomie und Botanik sehr nahe; Utopien hatten eine bestimmte Funktion als politische und philosophische Texte (New World, IX, 8). Diese Umstände sind für die Darstellung textueller Prozesse damaliger Zeit zu berücksichtigen, um ihrem tatsächlichen Umfang gerecht zu werden. Eine nach heutigem Verständnis fachübergreifende Arbeitsweise ist daher ebenfalls notwendig.

[4] Dieses Textverständnis ist unter Robinsonade-Kritikern verbreitet. Reichert, beispielsweise, geht in seiner Analyse von Defoes Robinson Crusoe und Nevilles Isle of Pines ebenso vor, und macht auf die Notwendigkeit dieses Anganges aufmerksam: „Die Gründe für den erstaunlichen Erfolg des Robinson Crusoe sind vielschichtig und erschöpfen sich keineswegs im dürftigen Koordinatensystem einer literatursoziologischen Betrachtungsweise.“(51) Diese Sichtweise ermöglicht es, relevante Beeinflussungesfaktoren aus den Gebieten der Philosophie und Wissenschaft mit zu berücksichtigen, welche die Reiseerzählung und Robinsonade mitprägten. Die eigentliche „Entstehung“ der Robinsonade ist hier aber (in Angrenzung zu Fausett) keineswegs Gegenstand der Untersuchung.

[5] Die „Literaturwissenschaft“ als eigenständiger Wissenschaftsbereich ist zu dieser Zeit gerade erst im Entstehen. Eine Definition des Begriffes „Literaturwissenschaft“ wird in diesem Aufsatz nicht vorgenommen. Er wird in all seiner Bedeutungsvielfalt, die ihm zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Arbeiten zukommt, gesehen und bei Bedarf im Einzelfall genauer untersucht.

[6] Das Bild des „John Bull“ und seine Beziehung zur Robinsonade wird später noch genauer erläutert werden.

[7] Brandl verweist auf das häufige Auftauchen von insularen Isolationssituationen in den Erzählungen der Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Auch in der griechischen Mythologie erkennt er das Robinson-Motiv: In der Odyssee wird von dem Aufenthalt Odysseus auf der Insel der Nymphe Kalypso erzählt und in den Troja-Sagen gibt es eine Episode über die Aussetzung des Griechen Philothek auf der Insel Lemnos (235-237).

[8] Vor allem beschäftigte er sich mit den historischen Reisetexten William Dampiers und Woods Rogers und den Erzählungen von Garcilasso de la Vegas, Henry Neville und Grimmelshausen. Hier sind Schilderungen verschiedener „Robinson“- Geschichten zu finden, die Brandl aber weder auf ihren Gehalt an Fiktivität/Faktizität noch auf mögliche textuelle Verbindungen genauer überprüft.

[9] Alle Autoren grenzen aufgrund ihrer paradigmatischen Arbeitsweise wichtige Texte und textuelle Bezüge aus. Utopien und Reisetexte werden gegenüber der Robinsonade abgegrenzt; Gattungsübergreifende Dynamiken werden missachtet. Föhrmann misst beispielsweise Smeeks Text Mighty Kingdom of Krinke Kesmes keine Bedeutung für die Robinsonade bei: „Hier ist eine additive, keine strukturelle Verbindung von Reisebeschreibungen, utopischer Erzählung und Robinsonade versucht: auch dieses Model ist nicht konstitutiv für die Entwicklung der Robinsonade“ (56). Diese Aussage wird der hier vorausgesetzten Dynamik textueller Prozesse nicht gerecht. Daher werden diese Autoren im Verlauf dieses Aufsatzes kaum weiter berücksichtigt.

[10] Hunters Quellenstudie ist sehr einseitig und für diese Arbeit unzureichend. Allerdings wird hier deutlich, dass viele unterschiedliche Lesarten des Textes möglich sind. Dieses erkennt auch White:“ It is certainly possible to read Defoes book in a number of ways […]“ ( 115). In dieser Arbeit ergibt sich ein Gesamtbild erst durch eine Analyse verschiedener möglicher Lesarten.

[11] Fausett mach darauf aufmerksam, dass für die Untersuchung der Wegbereiter Defoes auch Wechselwirkungen zu nicht-englischen Texten von Relevanz sind, da der Austausch von Texten zwischen England und dem Kontinent (vor allem mit den Niederlanden) rege war. Fausett kritisiert verschiedene englische Kritiker, da sie oftmals nicht-englische Quellen für ihre Untersuchung außer acht ließen. Er hält diese Vorgehensweise für unzulässig. Diese Aussage wird sich im Laufe dieser Arbeit bestätigen.

[12] Auch Gabriel de Foignys Utopie The Southland, Known (1676), welche in einer kürzeren Fassung 1675 erstmals in England erschien und anschließend in mehrere französische Versionen unter dem Titel La Terra Australe, connue veröffentlicht wurde, wäre in diesem Zusammenhang eine Betrachtung wert (Fausett, New World, 113). Da dieses den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, wird hier die Bedeutung des Textes von Veiras als Wegbereiter der Robinsonade stellvertretend dargestellt.

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