2. Reisetexte
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Reisetexte des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts wurden laut Adams bisher unzureichend auf ihren Einfluss auf die Entstehung fiktiver Erzähltexte untersucht, obwohl sie seiner Meinung nach großen Einfluss auf Schriftsteller und darüber hinaus auch auf Philosophen, Denkweise und Kultur dieser Zeit hatten. Er betont, dass sich Geschichts- und Sozialwissenschaftler mit Reisetexten sehr intensiv auseinandersetzen, da sie Quelle für geschichtliche Forschung sind und politische oder soziale Bewegungen widerspiegeln. Er sieht diese Notwendigkeit verstärkt auch für die literaturwissenschaftliche Forschung (“Travel Literature of the 17./18. Century – A Review of Recent Approaches“, 489/495-500).[1]
In diesem Kapitel werden Reiseberichte von englischen Seereisen betrachtet und ihre Bedeutung für die später untersuchten Erzähltexte des siebzehnten Jahrhundertes herausgearbeitet.[2] In Ergänzung zu Adams finden auch Reisetexte des sechzehnten Jahrhunderts Beachtung.
2.1. Hakluyts Sammlung von englischen Reisetexten
Im Jahre 1553 beginnt langsam die Expansion Englands zu See. In den Jahren 1576-1591 wächst die Reisetätigkeit Englands stark an (Parks, 100). Diese Seereisen waren ökonomisch motiviert; man suchte nach Absatzmärkten für englische Produkte (zum Beispiel Wollstoffe) in Übersee, um teure Zollkosten beim Verkauf in Europa zu vermeiden und hielt ebenfalls Ausschau nach neuen Rohstoffquellen. So wurde zum Beispiel Indien neben Grönland und Island schon früh als potentieller Absatzmarkt für englische Stoffe in Betracht gezogen (Scammell, 15, 22).[3]
Mit dem Zurückschlagen der spanischen Seestreitkräfte im Jahre 1588 wird Spaniens Vormachtstellung zu See gebrochen. Seereisen können leichter durchgeführt werden, auch wenn sie noch kriegsartigen Charakter hatten (Parks, 100-101).Die nun folgende kommerzielle Expansion Englands und des europäischen Kontinents und damit verbunden die wachsende Reisetätigkeit bildet die Grundlage für die Entstehung exotischer Reisetexte (Fausett, New World, 3). Reisebeschreibungen von Seereisen gewinnen an Bedeutung: “Because the literature of the sea was so new and so important in the sixteenth century, it overshadowed other kinds of travel accounts then and, for popular opinion about the period, has apparently continued to do so“ (Adams, Travel Literature and the Evolution of the Novel, 49).[4]
An Richard Hakluyts[5] Sammlung von Reisetexten ist zu erkennen, dass sich politische und ökonomische Ideen textuell manifestieren und zu einer bestimmten Erzähltechnik führen, welche in späteren fiktiven Reiseerzählungen wieder zu finden ist und diese maßgeblich mitgestaltet.
Hakluyts sammelte alle auffindbaren englischen Reiseberichte, beginnend mit textuell überlieferten Erkundungen nach Norwegen um 890 n. Chr, Berichten aus den Kreuzzügen und Überlandreisen nach Moskau. Er widmet aber den größten Teil seiner Sammlung den Seereisen des sechzehnten Jahrhunderts. Seine Quellen waren unter anderem Chroniken, Log-Bücher, Berichte von Händlern, welche nach der Reise von übergeordneten Institutionen protokolliert wurden und auch in Seeschlachten erbeutetes Textmaterial (Beeching, 9). Darüber hinaus stand er in persönlichem Kontakt zu Reiseteilnehmern wie Seeoffizieren und Händlern. Er hatte Zugang zu offiziellen Berichten über Seereisen, verwendete aber auch inoffizielle Berichte wie private Tagebücher und einfache Notizen von Reiseteilnehmern. Insgesamt sammelte er über zweihundert Reiseerzählungen unterschiedlicher Länge (Parks, 101-102).
Bei der Veröffentlichung dieser Texte erscheint Hakluyts als „Verleger“. Im Rahmen dieser Tätigkeit bearbeitete er diese Texte, indem er sie teilweise umschrieb, ergänzte oder nach unten genannten Kriterien kürzte. Auch erzählte er beispielsweise Texte älterer Chroniken in eigenen Worten nach; zuvor bereits mehrmals inhaltlich und stilistisch veränderte Texte erfuhren bei ihm weitere Veränderungen. Einige Erzählungen zeitgenössischer Reisen wurden einer oralen Quelle entnommen und durch ihn erstmals textuell verfasst und nach eigenen Maßstäben gestaltet. Abweichungen von einer ursprünglichen Quelle sind somit unterschiedlich groß; ebenso unterschiedlich ist der Fiktionalisierungsgrad (Adams, Travel Literature and the Novel, 44, 163-164). [6] Das genaue Maß seiner editorischen Veränderungen ist nicht im Text vermerkt.
Diese Rolle des „Verlegers“ diente nachfolgenden Autoren fiktiver Reiseerzählungen als Vorbild. Entsprechend der durch Hakluyts geschaffenen Tradition des Sammelns und Verlegens von faktischen Reiseerzählungen, gaben sich Autoren fiktiver Texte ebenfalls als „Verleger“ aus. Somit konnte die Existenz einer faktischen Quelle der Erzählung vorgetäuscht werden. Diese Methode entwickelte sich später zu einer eigenständigen Erzähltechnik, wie sie bei Neville, Veiras, Smeeks und Defoe zu finden ist, wo sie sich zur „Technik der Illusion“ verdichtet. Dieser Punkt wird später noch detailliert dargestellt.
Diese erste Sammlung englischer Reisetexte setzt Maßstäbe für nachfolgende Veröffentlichungen. Das Sammeln und Verlegen von Reisetexten wurde weitergeführt, zum Beispiel durch die Sammlung von Purchas (1625), die als Fortführung und Ergänzung der Hakluytschen Sammlung gesehen wurde. Dabei hatten Verleger Zugang zu textuellen oder oralen Quellen, welche von historischen Begebenheiten erzählten. Die Erzählfiguren der hier veröffentlichten Texte waren oft reale Personen aus der Geschichte der Seefahrt.
Die Erzählungen aus Hakluyts Sammlung weisen einige markante Ähnlichkeiten auf. Diese werden hier an der zweiten Hälfte seines Werkes deutlich gemacht, da hier Reiseberichte von Überseereisen veröffentlicht wurden, die für diese Untersuchung besonders relevant sind.
Zumeist wird chronologisch und in der Ich-Form retrospektiv über den Reiseverlauf berichtet. Der Ich- Erzähler ist dabei unterschiedlich präsent; zumeist blendet sich der Erzähler vollständig aus der Erzählung aus. Tagebuchartig sind die meisten Erzählungen nach Datum in Abschnitte geordnet: “The 6. day of September we entered the South Sea at the Cap or head shore.[…] The 8. day of October we lost sight of one of our Consorts.[…] We continued our course, fell the 29. of November with an Island called la Mocha, where we cast anchor […]“ (Bd 8, 57). Dieses Schema ist allen Texten gemein, wird aber unterschiedlich konsequent durchgehalten. In der Regel wird auch die Reiseroute unter Angabe maritimer Koordinaten vermerkt, was in manchen Erzählungen in Tabellenform geschieht (Bd 8,256). Ebenso werden mitreisende Person und ihre Funktion genannt, oftmals auch in Tabellenform (Bd 8, 140, 297). Einige Erzählungen beinhalten Einschübe, in welchen wörterbuchartig Begriffe einer fremden Sprache ins Englische übersetzt werden, um Aufschluss über die Sprache im Reisegebiet zu geben (Bd 8, 171/Bd 5, 137). Landschaftsbeschreibungen geben schwerpunktmäßig Aufschluss über geographische Besonderheiten der Reise und bieten Orientierungspunkte. Oft richtet sich hier der Erzähler direkt an den Leser und sieht in ihm einen nachfolgenden Segler: “Beata is a small Island and not very high: you may passe along outside thereof, and there is no danger but that you may see; and by and by you shall raise Alto velo“ (Bd.7, 251). Detailliertere Beschreibungen der Natur sind selten und zumeist aufsatzartig in die chronologische Erzählung eingeschoben[7].
Die Erzählungen haben allesamt den Charakter einer Berichterstattung, bei der sich der Erzähler möglichst ausblendet. Sie orientieren sich an der Aufzählung von faktischen Ereignissen. „Emotionale Momente“ der Reise fehlen fast vollständig oder sind sehr knapp und nüchtern beschrieben (Parks, 106). So wird der Tod von Kapitän Sir Francis Drake und Kapitän Plat (1595) ebenso sachlich geschildert, wie andere Ereignisse der Reise:
The 15 day Captaine Plat dies of sickness, and then Sir Francis Drake began to keepe his cabine, and to complaine of scowring or fluxe.
The 23 we set saile and stood up again for Puerto Bello, which is but 3 leagues to the Westwards of Nombre de Dios.
The 28 at 4 of the clocke in the morning our General Sir Francis Drake departed his life, having been extremely sicke of a fluxe, which began the night before to stop on him.[…]
The same day we ankored at Puerto Bello, being the best harbour we found all along the maine both for great ships and small (Bd.7, 194).
Eine Wertung der Ereignisse nimmt der Erzähler nicht vor. Ebenso sachlich werden Figuren und deren Taten beschrieben. So fehlen die Darstellungen von Charaktereigenschaften. Figuren werden lediglich anhand der Schilderung ihrer Taten dargestellt. Personenbeschreibungen sind selten und knapp, Charakterstudien gibt es nicht (Parks, 131-132).[8] Des Weiteren sind in allen Erzählungen Leiden, Schmerzen und vor allem auch Hoffnungslosigkeit ausgeblendet. Parks macht deutlich, dass selbst wenn von augenscheinlich hoffungslosen Situationen erzählt wird, der Erzähler stets hoffnungsvoll davon berichtet (124).
Diese erzählerischen Merkmale sind in Defoes Text ebenfalls wieder zu finden. Chronologisch, dem Stil der faktischen Reiseerzählung entsprechend, führt Crusoe Tagebuch über die Ereignisse auf der Insel. Der Bericht über seine eigene Krankheit ist der oben dargestellten sachlichen Schilderung von Ereignissen sehr ähnlich: “June, 22. A little better, but under dreadful apprehensions of sickness. June, 23. Very bad again, cold, shivering, and then a violent head-ache. June 24. Much better. June 25. An angue very violent.[…] June 26. Better; […] I killed the she-goat.“ (102). Sachlich stellt Crusoe hier sein Befinden dar.
Die am Text von Hakluyts geschilderten Merkmale markieren den Beginn der „Objektivität“ von Erzähltexten, die in späteren Reiseberichten ebenfalls zu finden ist. Insbesondere in fiktiven Erzähltexten sind Erzählmodi aus dieser Textsammlung wieder zu finden. Hier allerdings dienen sie dazu, einen Bezug zur Wirklichkeit vorzutäuschen, der bei Hakluyts Texten in gewissem Maße tatsächlich gegeben ist. Auch viele der bei Hakluyts verwendeten Stilmittel sind in den später analysierten Texten von Neville, Veiras und Smeeks wieder zu finden. Hakluyts markiert eine bestimmte Tradition der Reiseerzählung, deren hier genannten Hauptmerkmale sie bis zum Beginn des achtzehnten Jahrhunderts prägen.
Hakluyts hatte bei der Bearbeitung seiner textuellen und oralen Quellen eine bestimmte Motivation, die er in seinem Vorwort zur zweiten Ausgabe und in einem Brief an Robert Cecil, der im zweiten Band der gleichen Ausgabe abgedruckt ist, formuliert. Hier stellt er die Absicht dar, die Bedeutung historischer Auslandsaktivitäten Englands hervorheben zu wollen: “But that no man should imagine that our foreign trades of merchandise have been comprised within some few years, there may he plainly see in ancient testimony translated out of the Saxon tongue, how our merchants were often wont for traffic´s sake, so many hundred years since, to cross the wide seas“ (36). Außerdem sollen seine Texte dazu dienen, den zeitgenössischen englischen Überseehandel anzuregen und bei der Erschließung neuer Absatzmärkte durch textuelle Aufarbeitung und Veröffentlichung von Erfahrungen vergangener Seereisen zu helfen: “Because our chief desire is to find out ample vent for our woolen cloth, the natural commodity of this realm, the fittest place I find for that purpose are the manifold islands of Japan and the northern parts of China, and the regions of the Tartars next adjoining“(38).[9]
Parry macht deutlich, dass Hakluyts sich nicht als Geschichtsschreiber sah, sondern als Geograph und Propagandist. So war ihm einerseits das Sammeln von Informationen über neue Handelsstützpunkte und -möglichkeiten für den englischen Außenhandel wichtig, andererseits wollte er die maritimen Leistungen der englischen Nation propagandistisch aufarbeiten (4-6). Crone betont, dass Hakluyts Textsammlung als Motivation für Geschäftsleute gedacht war und geschäftliche Aktivitäten durch die möglichst genaue Schilderung von geographischen Gegebenheiten oder Erfahrungen im Überseehandel erleichtern sollte. Kalb weist darauf hin, dass darüber hinaus auch der einfache Bürger einerseits zur Zielgruppe und andererseits zu den tatsächlichen Lesern Hakluyts gehörte. Hier sollte ein breites Bewusstsein für das wirtschaftliche und politische Potential der Überseereisen geweckt werden (410). Diese Absicht bestätigt auch Scammel. Er weißt auf Hakluyts ökonomische Theorien von 1584 hin, in denen dieser Englands weltpolitische Zukunft in der Erschließung neuer Märkte in Übersee sieht (15).
Diese politische Motivation schlägt sich in seiner Textsammlung nieder. Der oben geschilderte sachliche, objektive Erzählstil erleichtert nachfolgenden Seefahrern die Verwertung nützlicher Informationen über ihr Reisegebiet. Objektivität und Reduktion auf wesentliche Informationen sind somit Ausdruck einer bestimmten Motivation – und zwar der Zweckgebundenheit der Erzählung, namentlich der Vorbereitung von Überseehandel. Landschaftsbeschreibungen sind in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Diese gleichen laut Crone oftmals der Beschreibung einer Landkarte; geographische Gegebenheiten werden empirisch erfasst und detailliert dargestellt (10). In nachfolgenden fiktiven Erzähltexten ist diese Art der Landschaftsbeschreibung ebenfalls zu finden. Hier dient sie allerdings dazu, den geschilderten fiktiven Ereignissen den Anschein von Authentizität zu verleihen.
Es ist schwer zu sagen, inwieweit Hakluyts editorische Veränderungen zur Vereinheitlichung des Erzählstils aller Texte und somit zum Gesamtcharakter der Textsammlung beitrugen.[10] Der einheitliche, objektive, stets hoffnungsvolle Erzählstil, und vor allem das Ausblenden von Emotionen in den Erzählungen führen dazu, dass sich in der Textsammlung Hakluyts ein bestimmtes Bild des typischen englischen Seefahrers und Händlers manifestiert. Die Leistungen, der Wagemut und die stillschweigende Opferbereitschaft der Reisenden, welche zum Wohl des Landes aller Gefahren Herr werden, werden in jeder Erzählung betont. Die Erzählerfiguren werden heroisiert (Kalb, 410).
Zur Entstehung dieses Bildes des Seefahrers trägt Hakluyts durch seine editorischen Veränderungen zumindest insofern bewusst bei, als dass er Erzählungen, die kein gutes Licht auf die Führungsqualitäten englischer Seeleute werfen, entsprechend kürzt und verändert (Parry, 5). Seine propagandistische Absicht bei der editorischen Bearbeitung der Texte wird hier deutlich.
Hier entsteht die Urform des englischen „Heldentypen“ der späteren Erzähltexte, der für die nun wachsende Popularität von Reisetexten verantwortlich ist. Hier beginnt eine literarische Tradition, in welcher auch Robinson Crusoe steht (Kalb, 411)
Die Tatsache, dass Robinson in seiner Person die Geschichte der Handels- und Entdeckungsreisen, der Eroberung und Kolonialisierung neuer Territorien idealtypisch verkörpert, ist wiederholt in der Forschung betont worden, doch ihre volle literarische Aussagekraft gewinnt sie erst im Zusammenhang der schon in der Reiseliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts angelegten Tonalität der Erfahrungswelt des Reisens (Kalb, 411-412).
Der Schwerpunkt der Erzählungen Hakluyts liegt auf der Aufbereitung der Neuen Welt für den englischen Überseehandel. Die Erzähler sind Wegbereiter einer neuen ökonomischen Dynamik, der sie selber auch schon unterliegen. Kalb sieht einen Zusammenhang zwischen Erzählmotiven und Erzählmodus einerseits und Handelsgeschichte andererseits. Textuelle und sozialgeschichtliche Veränderungen gehen damit einher.[11]
Parks sieht in den nüchternen und emotionslosen Erzählungen von naturgemäß dramatischen Umständen bei Hakluyts den Modelltyp für nachfolgende fiktive Abenteuererzählungen. Auch Defoe steht seiner Meinung nach in dieser hier beginnenden Tradition (124).
Hakluyts Reisetextsammlung war ein publizistischer Erfolg, der einhergeht mit der weltpolitischen Emanzipation Englands und dem Beginn ausgedehnter wirtschaftlicher Aktivitäten in Übersee. Zu dieser Zeit entsteht ein „imperiales Selbstbewusstsein“ in England (Bitterli, 240).
Die Vorbereitung zukünftiger Handelsaktivitäten und die propagandistische Darstellung vergangener englischer Aktivitäten bei Hakluyts sind erste Anzeichen eines sich auch textuell manifestierenden imperialen Selbstbewusstseins, welches vor allem die unternehmerische Mittelschicht stärkt. Dieses Selbstbewusstsein spiegelt sich in der Figur Crusoes in ausgeprägter Form wider und ist ein Faktor bei der Entstehung des Bildes des „John Bull“.
Die wachsende Expansion Englands zu See hatte ein wachsendes Interesse an weiteren Reisetexten zur Folge, welche sich an Hakluyts Textsammlung orientierten: “He was a mid-wife of the new literary genre, which was called into being by a new national elan“ (Parks, 101).
2.2.Wandel der Reisetexte
Seereisen zu Hakluyts Zeiten waren zumeist kriegerisch geprägt und ihre textuelle Verarbeitung diente einem ökonomischen Ziel (Bitterli, 20,30).
Die modernen Wissenschaften existierten noch nicht und waren keineswegs Motivation für Seereisen. Die Rezeption von Reisetexten führte zu einem Nachdenken über die Probleme der textuellen Wiedergabe von Reiseerfahrungen.[12] Man erkannte den hohen Informationswert der Texte, wusste aber, dass die Wiedergabe von Informationen im Erzähltext nur bedingt „objektiv“ ist. Außerdem wurde klar, dass von vielen interessanten Faktoren der Reise bisher nicht oder in unzureichendem Umfang berichtet wurde. Dieses betrifft vor allem Informationen über Wetterbedingungen.
Auf einer philosophischen Ebene führte die Konfrontation mit fremden Kulturen, Religionen und Regierungsformen zum Nachdenken über die eigenen Prämissen; philosophische Prozesse des Umdenkens gehen einher mit den im folgenden geschilderten textuellen Veränderungen der Reisetexte: „Es ist sicher kein bloßer Zufall, dass die ersten Versuche einer radikalen Umorientierung in den Methoden wissenschaftlicher Erkenntnissuche, die ihren Höhepunkt in Bacons Advancement of Learning (1605) fanden, etwa zur gleichen Zeit unternommen wurden, als ein beispielsloser Aufbruch von Reisenden in die Ferne den Beginn englischer See- und Kolonialherrschaft markierte“ (Kalb, 409).
Diese Umdenkprozesse beginnen aber nur langsam. Bitterli betont, dass die Reiseliteratur des siebzehnten Jahrhunderts anders rezipiert wurde, als die des achtzehnten Jahrhunderts. Erstere diente als Informationsquelle und „Landkarte“ für Segler und Händler, wurde aber darüber hinaus nur zur Unterhaltung gelesen. Die Leser staunten zwar über die „Absonderlichkeiten“ der fremden Welt, nur in Ausnahmefällen wurde aber ein tiefer greifendes philosophisches oder theologisches Nachdenken angeregt. Der „Kulturvergleich“, angeregt durch die Reisetexte des achtzehnten Jahrhunderts, hat laut Bitterli die Diskussion über die eigenen gesellschaftlichen Prämissen auf allen Ebenen der Gesellschaft zur Folge (208-209).[13]
Mit der Gründung der “Royal Society of London for Improving Natural Knowledge“ im Jahre 1660 wird eine Institution ins Leben gerufen, die nachfolgende Reisetexte maßgeblich beeinflusst und zur Entstehung der modernen Wissenschaften mit beiträgt (Hunter, Michael, 1-39). Die Royal Society entwickelt ein auf den modernen Erkenntnistheorien beruhendes Konzept zur textuellen Beschreibung von Reisen.[14] Die Directions for Seamen, Bound for Voyages (1665) waren Anleitungen für Reisende zur zweckmäßigen Beobachtung und deren textueller Beschreibung. Die Natur sollte als Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung erkannt und beschrieben werden. Beobachtungen sollten nach der Auswertung der Wissenschaftler der Royal Society zu einem empirisch gesicherten Weltbild führen. Die Anleitungen der Royal Society dienten dazu, Reisenden, die es nicht gewohnt waren zu beobachten und zu schreiben, das Verfassen ihrer Reisetexte zu erleichtern. Dadurch bestimmte die Gesellschaft auch, welche Art von Beobachtungen schwerpunktmäßig zu machen seien; sie „bestellte“ sich Informationen über separate Wissenschaftsgebiete je nach Bedarf (McVeagh, 10). Reisende wurden zu Hilfswissenschaftlern, die Beobachtungen unter anderem in Astronomie, Botanik, Geographie und Meteorologie machten (Franz, 26).[15] Beobachtungen geschahen nicht mehr nur, um Handelsmöglichkeiten auszubauen, sondern bekamen eine wissenschaftliche Bedeutung: “The Elizabethan adventurer and explorer was replaced by the Restoration buccaneer and scientist“ (Franz, 15).
Reiseerzählungen wurden also stark von philosophischen Überlegungen der Zeit beeinflusst. Es kam zu einer lebhaften Wechselbeziehung von Philosophie und Wissenschaft einerseits und Reisetexten andererseits: Die Beobachtungen und Erzähltechnik der Reisenden wurden von früh-wissenschaftlichen Maßstäben bestimmt; die textuelle Verarbeitung von Erfahrungen der Reisenden wiederum wurde von Wissenschaftlern ausgewertet, die dadurch zu neuen Erkenntnissen gelangten.[16]
Diese Rahmenbedingungen führen dazu, dass sich der Erzählstil von Reisetexten veränderte. Reiseerzählungen wurden entsprechend dieser Richtlinien verfasst, da die Veröffentlichung von Texten durch die Royal Society als große Ehre empfunden wurde (Franz, 19).
Daten aller Art wurden daher empirisch gesammelt; Beobachtungen geschahen systematisch und wurden im Erzähltext in knapper, sachlicher Art wiedergegeben. Dennoch sind diese Beschreibungen umfangreich und detailliert. Wie auch bei Hakluyts blendet sich der Erzähler weitgehend aus; der sachlichen Aufzählung von Fakten wird mehr Beachtung geschenkt. Texte werden verfasst, um Wissenschaftlern daheim als Informationsgrundlage zu dienen. Beschreibungen sind daher stets emotionslos und neutral, ebenso wie bei den Texten aus Hakluyts Sammlung (siehe oben.).
Am Beispiel Dampiers und Knoxs sollen stilistische, erzähltechnische und textuelle Verbindungen zu späteren fiktiven Texten einerseits und zum Wissenschaftsbegriff der Royal Society andererseits dargestellt werden. Dieses ist notwendig, um den Einfluss faktischer Reisebeschreibungen auf fiktive Erzähltexte beispielhaft zu verdeutlichen.
Dampier[17] beschreibt, beispielsweise, in seinem Reisetext A Voyage to New-Holland einen gefangenen Hai folgendermaßen: “´Among them we caught one which was 11 Foot long. The space between its two Eyes was 20 Inches, and 18 Inches from one Corner of his mouth to the Other. Its Maw was like a Leather Sack, very thick, and so tough that a sharp knife could scarce cut it´“ (Franz, 63). Der eigentliche Fischfang ist in dieser Erzählung ebenso wenig relevant wie persönliche Eindrücke; der Erzähler Dampier sieht sich als Sammler von Fakten für die Royal Society: “´Yet dare I avow, according to my narrow Sphere and poor Abilities, a hearty Zeal for promoting of usefull Knowledge […]´“(Franz, 20). Die Interpretation seiner Erlebnisse überlässt er den Wissenschaftlern; die Wiedergabe von gesammelten Daten steht im Mittelpunkt der Erzählung.
Ebenso wie bei vielen Erzählungen der Hakluytschen Sammlung fließen Beschreibungen stets aufsatzartig in Dampiers chronologisch geführtes Tagebuch ein (Adams, Travel Literature and the Novel, 44). Seine Erzählung folgt den Richtlinien der Royal Society: Sachlichkeit prägt den Text; Jede Beschreibung dient dazu, allgemeingültige Informationen weiterzugeben. “It was the 12th of October, 1685, when we set out the Harbour of Guatulco with our Ships. The land here lies along West, and a little Southerly for about 20 or 30 Leagues, and the Sea Winds are commonly at the W.S.W. sometimes at S.W. the Land-winds at N.“ (Dampier, 166). Ebenso Fakten bezogen, knapp und schwerpunktmäßig informativ wird von der täglichen Routine wie zum Beispiel der Nahrungsmittelbeschaffung gesprochen (115). Dampiers Texte stellen eine wichtige Informations- und Ideengrundlage für nachfolgende Autoren fiktiverTexte dar, die seine Beschreibungen in eigenen Texten auf unterschiedliche Weise weiterverwerten. Einige seiner Landschafts- und Naturbeschreibungen dienten sowohl Smeeks als auch Defoe als Vorlage für ihre eigenen Texte.
Im Text An Historical Relation of Ceylon (1681) erzählt Robert Knox retrospektiv von seinem Aufenthalt auf Ceylon, wo er fast zwanzig Jahre lang als Opfer einer Entführung lebte.[18] Knox schrieb den Text erst, nachdem er durch die Royal Society dazu aufgefordert wurde (Saparamadu ,VII). Er beschreibt sein Vorgehen und seine Quellen folgendermaßen: “´I have writ nothing but either what I am assured of by my own personal knowledge to be true […] or what I have recieved from the inhabitants themselfes of such things as are commonly knowen to be true among them`“ (Saparamadu, XXII). Hier wird deutlich, dass Knox sich als „objektiven“ Beobachter sieht. Sein Schwerpunkt liegt auf der Darstellung von „Wahrheit“. Dieser Anspruch entspricht den Richtlinien der Royal Society, die diesen Text maßgeblich mitgestaltete.
Themen bezogen in einzelne Kapitel gegliedert und mit Randbemerkungen übersichtlich gestaltet, schildert der Erzähler sehr detailliert die Geographie, Naturgeschichte, die Gesellschaft und ihre politische und soziale Organisation, Religion, Ökonomie und Geschichte des Landes. In den Kapiteln IV-VII (“Of their Fruits and Trees.“, “Of their Roots Plants, Herbs, Flowers.“, “Of their Beasts Tame and Wild. Insects.“, “Of their Birds, Fish, Serpents, and Commodities.“) wird die Natur des Landes bis in Detail beschrieben.[19] Die Menge der einzelnen Beschreibungen ergeben ein Gesamtbild der Natur, welches laut Saparamadu in Teilen bis heute noch Gültigkeit hat (XXXVII).
Der Erzähler schildert seine Beobachtungen, hält sich aber mit Wertungen zurück zugunsten der empirischer Sammlung und gegliederter Wiedergabe von Informationen. In dieser Hinsicht ist sein Text dem Dampiers sehr ähnlich; hier wird der Einfluss der Royal Society auf die Reiseerzählung noch einmal deutlich.
In den Kapiteln, die von seinem eigenen Schicksal handeln, schildert der Erzähler unter Angabe des Datums den Ablauf bestimmter Ereignisse. Von Gefühlen wird dabei ebenso sachlich erzählt wie vom Glauben an Gott und von der täglichen Routine: “Still remained I where I was, having none but the black boy, and my Auge to bear me Company. Never found I more pleasure in Reading, Meditating and Praying than now“ (238). Der Erzähler stellt sich dabei durch die Schilderungen seiner Handlungen als gottgläubigen Menschen dar, dessen Leben vor allem durch seine Selbstständigkeit und Rationalität geprägt ist. Saparamadu erkennt im Charakter dieser Erzählfigur eine große Ähnlichkeit zu Defoes Crusoe und vermutet, dass sich Defoe bei der Ausgestaltung der Figur Crusoes stark am Charakter der Erzählerfigur Knox orientierte (XLIV).
Auch Crusoe stellt sich durch die sachliche Schilderung seiner Handlung und seiner Gedankengänge als rationalen Menschen dar, der nur aufgrund seiner geistigen Leistungen auch zu handwerklichem Geschick findet. So zum Beispiel gelingt ihm die Produktion von Töpfen, selbstgeflochtenen Körben und Kerzen: “Accordingly, the next morning I came provided with six large candles of my own; for I made very good candles now of goat´s tallow“ (184). Ebenso wie Knox benennt Crusoe zwar seine Gefühle, steht ihnen aber gleichzeitig sehr distanziert gegenüber. In beiden Texten werden Gefühlsregungen keine große Bedeutung beigemessen: “I was dreadfully frighted (that I must acknowledge) when I percieved him to run my way“(Defoe, 205). Auf der Darstellung der rationalen Beobachtungsgabe liegt stets ein Schwerpunkt: “[…] I kept my station, and my spirits began to recover, when I found that he outstrip´d them exceedingly in running and gaining ground of them.[…] I found that two of them could swim. […] I observed that the two who swam were yet more than twice as long swimming over the creek as the fellow was that fled from them“ (Defoe,205). Ebenso wie bei Defoe und Veiras wird auch die faktische Erzählung von Knox durch die Verwendung direkter Rede belebt: “But, they asked further, What was my Opinion? I replied, He is so great, that there is none great enough to give him councel“ (324).
Die durch die Royal Society beeinflusste Reiseerzählung von Knox prägt einen Erzählstil, der auch in den fiktiven Texten Smeeks und Defoes zu finden ist. Sowohl bei Smeeks (siehe unten) als auch bei Defoe dienen Tabellen und Aufzählungen dazu, Beobachtungen systematisch wiederzugeben; so, beispielsweise, stellt Crusoe seine Wetterbeobachtungen entsprechend der Tradition der faktischen Reiseerzählungen tabellenartig dar (119).
Die Erzählung von Knox war eine wichtige Quelle sowohl für Smeeks als auch für Defoe. Alle drei Texte weisen viele inhaltliche und stilistische Ähnlichkeiten auf. Fausett weist auf Ähnlichkeiten bei der Nahrungsbeschaffung und dem Unterkunftsbau beider Figuren hin; auch hat Knox, ebenso wie später Crusoe, einen Einheimischen als Weggefährten an seiner Seite. Des Weiteren sind Erzähltechnik und Erzählstil sehr ähnlich, wie deutlich wurde. Noch größer sind aber laut Fausett die inhaltlichen und erzählerischen Parallelen der Knoxschen Erzählung zum Text von Smeeks (Strange Sources, 83). Dieses wird später bei der Analyse des Textes von Smeeks noch deutlich. Während Saparamadu vermutet, dass Defoe die Figur des Erzählers Knox als Vorbild für die Figur des Robinson verwendet hat (XLIV), sieht Fausett im puritanischen Handlungs- und Ideenrahmen der Erzählung eine „Superstruktur“, die unter anderem auch bei Smeeks und Defoe zu finden ist (Strange Sources, 84). Diese These wird im Folgenden noch erläutert und untersucht.
Tatsächlich ist die Dualität von wissenschaftlich motivierter Beschreibung einerseits und religiöser Interpretation des Weltgeschehens andererseits charakteristisch für faktische Reiseerzählungen der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts und auch für die fiktiven Texte Smeeks und Defoes. Handlungen und Ereignisse wie Stürme, Schiffbrüche, Hunger und gelingende oder misslingende Taten werden religiös gedeutet. Jedes Geschehnis wird als ein Zeichen göttlichen Eingreifens, und als Wegweiser für das eigene Schicksal interpretiert. Kalb betont, dass die religiöse Interpretation empirischer Wirklichkeit konsequent oder punktuell in allen Reiseberichten dieser Zeit zu finden sei (418-419). Diese Art der Weltdeutung lässt sich in Reisetexten deshalb besonders häufig finden, da man auf Reisen häufig mit kritischen und ungewissen Situationen konfrontiert wurde, die man als Zeichen Gottes erkannte. Puritanische Reisende glaubten daher, Gott näher zu sein. Die Gefahren des Reisens und damit auch die häufige Konfrontation mit Gottes Willen wurden von puritanischen Christen als Weg der Selbstfindung gesehen. Das Reisen war nicht unmoralisch, sondern hatte eine wichtige Funktion im Weltbild der Puritaner (413). Darüber hinaus führte deren religiös motivierte Kapitalakkumulation zum Aufblühen des „christlichen Handels“ .[20] Reisetexte spiegeln laut Kalb diesen geschichtlichen Umstand wieder. (417)
Exemplarisch soll dieses am Textbeispiel von Knox belegt werden. Hier kann nämlich erkannt werden, wie sich die religiöse Weltsicht der englischen Puritaner des späten siebzehnten Jahrhunderts textuell manifestiert.
Der Erzähler Knox berichtet von seinem persönlichen Schicksal und seiner Flucht von der Insel Ceylon. Geglückte Aktionen während seiner Flucht begründet er nicht mit eigener Geschicklichkeit, sondern macht deutlich, dass Gottes Wille und Beistand zum Gelingen beigetragen haben: “In short, I look upon the whole Business as a miraculous Providence, and that the hand of God did eminently appear to me, as it did of old to his People Israel in the like circumstances, in leading and conducting me thro this dreadful Wilderness, and not to suffer any evil to approach nigh unto me“ (319). Mut und Kraft sieht er als Geschenk Gottes für sein Gottvertrauen und seine Gebete: “Which courage and peace I looked upon to be the immediate gift of God to me upon my earnest Prayers, which at that time he poured into my heart in great measure and fervency“ (318).
Ebenso verdankt der Erzähler sein materielles Überleben der Zuwendung Gottes. Durch geschickten Handel mit dem Verleih von Korn gelingt es Knox, sich von den Gaben seiner Entführer unabhängig zu machen und einen gewissen Wohlstand zu erreichen. Der Erzähler rechtfertigt sein Gewinnstreben mit dem Erhalt des Segen Gottes: “And thus by the Blessing of God my little was encreased to a great deal. For he had blessed me so that I was able to lend to my Enemies, and had no need to borrow of them“ (282). Fausett erkennt hier in der Erzählung eine frühe Rechtfertigung kapitalistischen Handelns. Er weist darauf hin, dass der Erzähler seine Mitmenschen nach ökonomischen Gesichtspunkten als Freund oder Feind betrachtet und damit auch die Ausbeutung seiner Leidensgenossen legitimisiert. Fausett erkennt eine „proto-kolonialistische“ Struktur in der Erzählung (Strange Sources, 79-80). Hier ist die religiöse Motivation des kapitalistischen Handels, die später Defoes Text mitprägt, bereits zu erkennen.
Die Sorge um das Überleben in der Fremde im Einklang mit Gottes Willen durchzieht laut Kalb die Reiseerzählung dieser Zeit als zentrales Motiv. In Defoes Robinson Crusoe ist dieses Motiv idealtypisch dargestellt (Kalb, 420). So, beispielsweise, sieht die Figur Crusoe – ebenso wie Knox – den Gebrauch des eigenen Verstandes als gottgefällig an; die menschliche Erkenntnisfähigkeit erscheint als Gabe Gottes und soll zur Erfüllung göttlicher Gebote genutzt werden, welche sich durch Zeichen offenbaren: “And this made me melancholly somtimes, in reflecting as the several occasions presented, how mean a use we make of all these [gifts of god], even though we have these powers enlighted by the great lamp of instruction, the spirit of God, and by the knowledge of His word, added to our understanding.“(212) Eine besondere Bedeutung kommt jedoch der christlichen Religiosität Crusoes im Vergleich zur „Naturreligion“ Freitags zu. Hier findet anhand des Kulturvergleiches auch ein Religionsvergleich statt: “And why it has pleased God to hide the saving knowledge from so many millions of soules, who, if I might judge by this poor savage, would make a much better use of it than we did“ (212). Darüber hinaus dient hier der Kulturvergleich dazu, die Unzulänglichkeit der eigenen Religiosität darzustellen und zu kritisieren.
Diese Art des Religions- und Kulturvergleichs findet man schon bei Knox, der neben der Darstellung seiner eigenen Religiosität auch die Religion der Einwohner Ceylons im Kapitel V “Concerning their Religious Doctrines, Opinions and Practices“ darstellt. Hier ist der Vergleich aber indirekt; die Religion der Bewohner Ceylons wird nicht bewertet, sondern beschrieben.
Religiöse und ökonomische Ansichten des späten siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhunderts, die in einer frühen Form schon bei Hakluyts zu finden sind, spiegeln sich auch in späteren faktischen Reiseerzählungen wider. Ebenso sind in fiktiven Reisetexten sowohl ökonomische Ansichten als auch religiöse Sichtweisen zu finden, die der Tradition der faktischen Erzählung entsprechen. Hier bilden sie zumeist einen bestimmten Handlungs- und Ideenrahmen.[21]
So werden zum Beispiel auch in den Erzählungen von Neville, Veiras und Smeeks Naturereignisse als göttliche Zeichen interpretiert, was in Kapitel 7 noch im Einzelnen dargestellt wird. Es wird deutlich, dass die religiöse, emblematische Interpretationsmethode in Reiseerzählungen einer Tradition unterliegt.
Insbesondere das Motiv des Kultur- und Religionsvergleiches, welches ansatzweise bei Knox auftaucht und den Text von Defoe maßgeblich prägt, ist bei Smeeks und Veiras zu finden, wie später detailliert dargestellt wird. Es wird deutlich, dass diese Erzählmotive auf Beschreibungen und Kulturvergleichen in der faktischen Reiseerzählung basieren und ebenfalls eine bestimmte Tradition haben.
Während Hakluyts Texte geistige und textuelle Wegbereiter nachfolgender Reisetexte waren und seine Rolle als „Verleger“ zum Stilmittel der Vortäuschung von Authentizität in späteren Erzähltexten wird, sind die Reisetexte der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts Wegbereiter eines Erzählstils, der sich in fiktiver Erzählliteratur teilweise in genauer Kopie wieder finden lässt. Des Weiteren dienten diese faktischen Erzähltexte Autoren fiktiver Geschichten als Informationsquelle für Landschafts- und Naturbeschreibungen, was später detailliert untersucht wird.
Reisende verändern durch die Richtlinien der Royal Society ihren Blick auf die Welt; ihre Berichte unterscheiden sich somit maßgeblich von früheren Reiseerzählungen (Franz, 28). Erzählerisch und inhaltlich setzten Reisebeschreibungen dieser Zeit Maßstäbe für fiktive Reiseerzähltexte, die in enger Anlehnung an faktische Reiseberichte und zumeist mit der Absicht, Echtheit vorzutäuschen, verfasst wurden. Reisetexte wurden zu einer viel gelesenen textuellen Gattung und waren schon 1710 sehr weit verbreitet (Franz, 8). Es entstand ein kommerzieller Absatzmarkt für faktische Reiseerzählungen, der dem Markt für fiktive Reiseerzählungen den Weg ebnete.
3. Fakt und Fiktion
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[1] Adams bezeichnet hier Reisetexte als eigenes literarisches „Genre“, welches zwischen 1) Geschichte, 2) Belle Letteres, 3) Roman und 4) Literarischer Autobiographie anzusiedeln sei (513). Hier erkennt er auch eine Vielzahl textueller Wechselwirkungen und Prozesse. Paradigmatische Definitionen dieses „Genres“ lehnt er aber ab: “Finally, the ´recit de voyage´ cannot be a literary genre with a fixed definition […], it is not even sui genris since it includes so many types both by form and by content“ (Travel Literature and the Novel, 282). Um dem multiplen Charakter der zu untersuchenden Texte gerecht zu werden, schließe ich mich in diesem Punkt der Auffassung von Adams an.
[2] Eine genauere Analyse nicht-englischer Seereiseberichte wäre auch interessant, ist aber für diese Arbeit zu umfangreich. Bestimmte holländische Reiseberichte finden aber aufgrund ihrer Relevanz in einem späteren Kapitel noch Beachtung.
[3] Scammell bezeichnet diese frühen Handelsbeziehungen als ideologische Vorbereitung des Dreieckshandels (22). Auch Adams sieht als Hauptgrund dieser frühen Seereisen das wachsende Handelsinteresse und verweist auf die Gründung der English East India Company im Jahre 1600 (Travel Literature and the Evolution of the Novel, 57). Diese Reisen unterscheiden sich somit von den später durchgeführten Reisen, deren Schwerpunkt sich mehr und mehr zu Gunsten der Forschung verschob.
[4] Schon vor dem Erscheinen von Hakluyts Reiseberichtessammlung waren dem englischen Leser Reisetexte aus dem Ausland zugänglich (Adams, Travel Literature and the Novel, 76). Diese Texte können aber im folgenden vernachlässigt werden.
[5] Richard Hakluyts (1551- 1616) studierte 1574-1577 in Oxford und lehrte anschließend Geographie. Er laß Reiseberichte aller Epochen in verschiedenen Sprachen und begann 1582 mit dem Veröffentlichen von Reiseberichten. Seine wichtigste Arbeit war die Veröffentlichung der Principle Navigations, dessen zweite und umfangreichere Auflage von 1598-1600 ihm zu Ruhm und Ansehen verhalf (Beeching, 1).
[6] Für ein späteres Kapitel dieses Textes bleibt festzuhalten, dass eine klare Trennung zwischen „faktischen“ und „fiktiven“ Erzählungen schon bei Hakluyts kaum möglich ist. Einerseits tragen seine editorischen Veränderungen dazu bei, andererseits auch die zweifelhafte „Faktizität“ seiner Quellen. So wurde beispielsweise der Text von Thomas Morus Utopia in der ersten Ausgabe von Hakluyts Sammlung (1589-90) noch als historische Reise beschrieben (Fausett, Strange Sources 20). Da dieser Sachverhalt durch seine zeitgenössischen Leser noch nicht kritisch reflektiert wurde, wird diese Problematik erst an späterer Stelle in einem anderen Zusammenhang diskutiert.
[7] So bildet Sir Francis Drakes Beschreibung eines Kokosnußbaumes während seiner Weltumseglung 1577 die Ausnahme (Bd 8, 50-51). Vermerke dieser Art wecken aber insbesondere das Interesse früher Wissenschaftler an Reisetexten und tragen dazu bei, dass sich die Erzählinhalte von Reisetexten später ändern.
[8] Parks sagt, dass „Charakter“ (im heutigen Sinne) im damaligen Erzähltext als Merkmal zur Beschreibung von Figuren noch nicht existierte. Figuren wurden lediglich anhand ihrer Taten charakterisiert und bewertet. (131)
[9] Die Seitenangaben beziehen sich in diesem Fall auf die Penguin- Ausgabe von 1985.
[10] Adams betont mehrmals, dass Hakluyts die Texte maßgeblich verändert und neu gestaltet hat (Travel Literature and the Novel, 163).
[11] Kalb sieht das Bild des englischen, mittelständischen Heldentypen in Erzähltexten gemeinsam mit dem aufstrebenden Handelsbürgertum des elisabethanischen Zeitalters entstehen. Soziale , politische, ökonomische und textuelle Dynamiken sind bei ihr Teil eines gemeinsamen Prozesses.(410-413)
[12] Parks macht deutlich, dass die Berichterstattung bei Hakluyts nicht wirklich objektiv ist, sondern natürlich stets von der subjektiven Sicht des Beobachters und Erzählers getrübt ist, welcher oftmals darüber hinaus noch von äußeren Einflüssen und Zwängen in seiner Erzählung beeinflusst wird. So bleiben zum Beispiel die genauen Umstände der Exekution eines Seemannes durch Drake ungeklärt, da es für den Erzähler vermutlich nicht möglich war, Entscheidungen eines Vorgesetzten durch seine Erzählung in Frage zu stellen (131). Über diese Umstände wurden sich auch die zeitgenössischen Rezipienten der Reisetexte bewusst.
[13] Bitterlis Trennung in Reisetexte des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts ist so nicht ganz präzise; den ersten Wandel von Reisetexten und deren Rezeption kann man 1660 mit der Gründung der Royal Society ansiedeln, was im folgenden erklärt wird. Der zweite Wandel, der in dieser Arbeit nicht näher untersucht werden kann, findet um 1750 statt, als die modernen Wissenschaften sich etablierten und Wissenschaftler persönlich auf Forschungsreise gingen, anstatt sich nur Daten mitbringen zu lassen. So war zum Beispiel der deutsche Naturwissenschaftler Georg Forster bei der zweiten Weltumseglung James Cooks 1783 mit an Bord (Bitterli, 23). Hier erhielten wissenschaftliche Beobachtungen einerseits und davon getrennt textuell verarbeitete Reisebeschreibungen andererseits ganz andere Qualitäten. „Wissenschaft“ und „Literatur“ teilten sich in zwei getrennte Fächer . Der wissenschaftliche Forscherdrang wurde zum Hauptgrund der Überseereisen; so wurde die erste Weltumseglung Cooks unternommen, um einen guten geographischen Standpunkt für astronomische Beobachtungen zu haben (Bitterli, 32). Bitterli stellt diesen Umstand im Laufe seines Textes selber klar.
[14] Hier fand stets eine Diskussion über zeitgenössische Erkenntnistheorie statt. Später war hier vor allem die Erkenntnistheorie John Lockes (1632-1704) von Bedeutung. Locke trennte erstmals die Wissenschaft als Mittel der Welterkenntnis von der Philosophie: Die Wissenschaft erkennt die Welt mit philosophisch gesicherten Methoden (Gawlik, 73-117).
[15] Es entstehen somit verschiedene, separat betrachtete Wissenschaftszweige.
[16] Franz betont den Einfluß von Reisetexten auf die Philosophie anhand eines Zitates Francis Bacons , welcher 1665, schreibt: “´Nor must it go for nothing, that by the distant voyages and travels which have become frequent in our times, many things in nature have been laid open and discovered which may let in new light upon philosophy“ (15).
Dampiers Wetterbeobachtungen führten zum Beispiel zu einer wissenschaftlichen Abhandlung über Geographie und Meteorologie, in der Zusammenhänge anhand empirischen Datenmaterials analysiert und „pre“- wissenschaftlich erklärt werden. Botaniker waren für ihre Arbeit auf Pflanzenbeschreibungen aus Reisetexten angewiesen (Franz, 26).
[17] William Dampier (1652-1715) kämpfte als Freibeuter in der Südsee gegen die spanische Handelsflotte und diente später in der englischen Marine. Er erkundete Teile der Küste Australiens. Er verfasste die faktischen Reiseerzählungen New Voyage Round the World (1697), Voyages and Descriptions (1699), und Voyage to New Holland in the Year 1699 (1703) und wurde mit diesen modernen, durch die Erkenntnistheorien des Empirismus beeinflussten Erzählungen bekannt (Fausett, Mighty Kingdom, lII).
[18] Knox wurde 1606 in England geboren und arbeitete als Seemann bei der English East India Company. Er fiel 1660 in die Hände seiner Entführer und lebte an verschiedenen Plätzen auf der Insel Ceylon. Seine Erzählung basiert auf historischen Tatsachen, was sich anhand unabhängiger zeitgenössischer Dokumente, wie zum Beispiel Briefwechsel der holländischen Regierung mit dem König von Ceylon, überprüfen lässt (Saparamadu,VII-IX, L-LIII).
[19] Pflanzen werden besonders detailliert beschrieben. Der Zimtbaum wird beispielsweise zuerst als Ganzes beschrieben, bevor sich der Erzähler einzelnen Teilen des Baumes wie der Rinde, dem Holz, der Frucht, den Blättern und der Verwertung der Pflanze widmet (30).
[20] Weber macht diesen Umstand in dem Text Die Protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus klar.
[21] In diesem Sachverhalt ist Fausetts Idee der „Superstruktur“ (siehe oben) wieder zu finden. Es wird deutlich, dass religiöse und ökonomische Ideologien, die in faktischen oder fiktiven Reiseerzählungen zu erkennen sind, Faktoren einer zeitgenössischen Weltsicht und -interpretation sind. Ähnlichkeiten in unterschiedlichen Texten sind nicht notwendigerweise Folge vom Plagiieren, sondern beruhen auf einem übergeordneten Wirkungszusammenhang, der sich im Text widerspiegelt.
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