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3.1.Fiktive Reiseerzählungen

Durch die geographische Ausdehnung Englands und den Wandel des Weltbildes wuchs die Popularität von Nachrichten aus Übersee stark an. Sie sollten Antworten liefern und die wissenschaftliche Neugierde des beginnenden „Zeitalters der Vernunft“ stillen.

Reiseberichte sind einerseits aktive Faktoren eines geistigen Wandels, andererseits gleichzeitig seine Folge. Sie regten einen Kulturvergleich an und wurden zum Bestandteil der Dynamik eines generierenden geistigen Prozesses des Wandels.

Die Nachfrage nach Reiseberichten war groß. Die britische Admiralität ging sogar dazu über, alle Tagebücher von Besatzungsmitgliedern staatlich finanzierter Reisen zu beschlagnahmen, um den Gewinn durch den Verkauf eines „offiziellen Berichts“ nicht durch die Veröffentlichung weiterer Berichte über die gleiche Reise zu schmälern (Adams, Traveller and Travel Liars 1660-1800, 42).[1] Dieser Markt für Reiseberichte hatte zur Folge, dass auch fiktive Reiseberichte verfasst wurden, die das gleiche Publikum ansprachen und sich ebenso erfolgreich verkaufen ließen: “It was the age of gold for travellers, both real and imaginary“ (Adams, Traveller, 9).

Die Autoren dieser Texte nahmen sich die faktischen Reiseerzählungen zum Vorbild und versuchten sie zu imitieren. Infolgedessen gewinnt die fiktive Reiseerzählung sehr an Bedeutung und bestimmt das Weltbild der Leser ebenso, wie die „objektive“, faktische Reiseerzählung (Adams, Traveller, 18). So ließ sich beispielsweise mit erfundenen Nachrichten über die „Nordwest-Passage“ oder die „Patagonischen Riesen“ über einen langen Zeitraum hinweg Geld verdienen. Die Auswirkungen der Fiktionen auf Politik und Wissenschaft waren groß. So verließen sich Seeleute beispielsweise auf Kartenmaterial über eine mögliche Nordwestpassage, welches auf fiktiven Berichten basierte; dieser und ähnliche Umstände wirkten sich auch auf politische Entscheidungen der Zeit aus. Auf besonderes Interesse stießen vor allem Reiseerzählungen über die damals noch unbekannten Regionen um Australien (siehe unten).

Es gab eine große Anzahl fiktiver Reiseerzählungen, die mit Informationen aus faktischen Reiseberichten gefüllt waren; fehlerhafte Informationen, Plagiate und komplett erfundene Texte waren ebenso weit verbreitet wie echte Reiseberichte. Der Anspruch der Royal Society auf objektive, sachliche Reiseberichte, war somit laut Adams eine Fehlzündung, da de facto nicht zwischen faktischen oder fiktiven Erzählungen unterschieden werden konnte. Es entstand eine Mischform (Adams, Traveller, 230-231).

Zu dieser Mischform sind auch die Texte Nevilles, Veiras, Smeeks zu zählen, an denen die Dynamik des Prozesses Fakt/Fiktion später im Einzelnen noch einmal deutlich gemacht wird.

Beispielhaft soll kurz an den im Folgenden untersuchten Textbeispielen aufgezeigt werden, in welcher Beziehung historische Ereignisse, faktische und fiktive Reiseerzählungen zueinander stehen. Diese Untersuchung ist wichtig, da hier deutlich wird, welche vielseitigen textuellen Dynamiken dafür sorgen, dass Fakt und Fiktion kaum voneinander zu trennen sind; hier wird das Entstehungsklima der später analysierten Reiseerzählungen deutlich. Auch wird hier klar, dass es verschiedene Erzähltraditionen gab, die aber nicht immer klar zu erkennen sind und die sich teilweise vermischen. Das hier geschilderte Klima textueller Prozesse beeinflusste alle Reiseerzählungen, die von Defoe ebenfalls.

In Happels Sammlung von Erzählungen Größte Denkwürdigkeiten der Welt oder Sogenannte relatios curiosae, welche 1649 erstmals veröffentlich wurde und anschließend als Aufsatzsammlung regelmäßig erschien, sind Reiseerlebnisse unterschiedlicher Fiktionalität abgedruckt. Exemplarisch soll hier kurz die Erzählung des Volquard Iversen (96-106) untersucht werden. An dieser Erzählung kann verdeutlicht werden, dass das Verhältnis von Fakt zu Fiktion, welches das Entstehungsklima der Robinsonade mitbestimmt, von der Form der Überlieferung von Informationen abhängt. Dieser Text basiert vermutlich auf einer oralen Erzählung und unterscheidet sich dadurch von anderen Texten. Erzählmodus und Stil weisen auf eine orale Erzähltradition hin, die später auch in den Texten von Neville, Veiras und Smeeks festzustellen ist. Des Weiteren wird in dieser Reiseerzählung von historischen Ereignissen während der Erforschung der Küste Australiens erzählt, auf die sich auch die später untersuchten Texte beziehen, so dass hier auch eine bestimmte Dynamik von Erzählmotiven erkannt werden kann.

Zunächst schildert der Ich-Erzähler Iversen seine Seereisen und Erlebnisse in Ostindien. Die Erzählung erweckt den Anschein, auf einem historischen Ereignis zu basieren; so gibt der Erzähler das Datum der Abreise, die Namen der Schiffsflotte und deren Kapitäne an: „Wir gingen darauf den 23. Dezember des 1661. Jahrs von Batavien zu Segel, mit einer in 7 Schiffen bestehenden Flotte, deren Namen waren, I.`Wappen von Holland`, auf welchem unser Admiral, Herr Arnaud de Vlaming vom Outhorn war, […]“ (97). Tatsächlich war Admiral de Vlaming eine reale Person (siehe unten); auch die geographische und zeitliche Gegebenheit der Erzählung könnte mit faktischen Begebenheiten übereinstimmen. Möglicherweise ist der Gehalt an Faktizität also recht hoch. Nüchtern und Fakten bezogen schildert der Erzähler den Ablauf von Ereignissen. Da wissenschaftliche Beobachtungen wie Pflanzenbeschreibungen oder Naturbeobachtungen fehlen, ist anzunehmen, dass die Erzählung von einer an wissenschaftlichen Beobachtungen uninteressierten Person stammt. Tatsächlich bezeichnet sich der Ich-Erzähler als holländischen Beamten, der in die Heimat zurückkehren will (97). Daher liegt auch die Vermutung nahe, dass die Erzählung kein „offizieller Bericht“ ist und auch nicht auf einem offiziellen Bericht basiert, da sonst die Schilderung von Beobachtungen und Daten stärker als die Darstellung personenbezogener Ereignisse im Vordergrund stehen würde.

Die historisch belegte Informationssperre der holländischen Behörden über alle Seeaktivitäten in Ostindien (siehe unten), legt die Vermutung nahe, dass diese Erzählung an offiziellen Stellen vorbei mündlich überliefert wurde oder einem privaten Tagebuch entstammt. Dafür würde auch die Tatsache sprechen, dass im Verlaufe der Erzählung der Erzähler wechselt. Ein unbekannter Ich-Erzähler schildert nun die Erlebnisse des Iversen. Dieser gibt die Quelle seiner Informationen nicht an; dadurch lässt sich der tatsächliche Gehalt an Faktizität nicht bestimmen. Mögliche fiktive Elemente des Berichtes werden so verschleiert, da die Erzählung insgesamt unüberprüfbar wird. Ob einer der beiden Erzähler auch tatsächlich Augenzeuge war, oder ob es sich um eine Nacherzählung handelt, ist nicht mehr nachzuvollziehen; vermutlich ist diese Erzählung aber tatsächlichen Ereignissen sehr nahe.

Einen anderen Bezug zur Faktizität ist in dem bei Adams bearbeiteten Text Voyage et avanture de Francois Leguat von 1707 zu finden. Diese Erzählung basiert nicht auf einer oralen Erzähltradition; im Gegensatz zum eben analysierten Text kann hier eine bestimmte textuelle Erzähltradition festgestellt werden, welcher die später untersuchten Reiseerzählungen ebenfalls unterliegen.

Der Erzähler, der sich auch als Autor ausgibt, schildert in der Ich-Form, wie er im Indischen Ozean Schiffbruch erleidet und auf der Insel Roderiguez zusammen mit acht weiteren Überlebenden anlandet. Detailliert beschreibt der Erzähler Flora und Fauna der Insel. Mit einem selbstgebauten Boot entkommt die Gruppe nach Mauritius, und wird hier von der holländischen Kolonialmacht verhaftet. Man unterstellt ihnen den illegalen Handel mit Amber. Sie werden zwangsrekrutiert und nach Batavia verschifft, wo die drei letzten Überlebenden freigelassen werden. Über Süd-Afrika gelangt Leguat 1698 nach England (Adams, Traveller, 100).

Der Erzählstil entspricht dem oben dargestellten nüchternen und objektiven Stil der faktischen Reiseerzählungen. Der Erzähler versichert, dass seine Geschichte wahr sei und belegt dieses mit einer detaillierten Beschreibung der Stadt Batavia. Besonders aber die Naturbeschreibungen der Insel Roderiguez – vor allem die des so genannten “solitary-birds“ und des “gelinotte-birds“ – dienen als Beleg des Wahrheitsgehaltes der Geschichte.

Lange wurde darüber gerätselt, ob es sich um einen Tatsachenbericht handelt; zumeist wurde der Text aber als faktische Reiseerzählung betrachtet, so dass ihn die Hakluyts Society als wahrheitsgemäße Reiseerzählung verlegte. Erst 1922 gelang Geoffrey Atkinson der Beweis, dass verschiedene Textstellen aus verschiedenen anderen Reiseberichten kopiert wurden. So entstammt die Erzählung über Mauritius und die Episode des Amberverkaufes sowie die Beschreibung Batavias aus einer Erzählung von Tavernier und wurde teilweise sogar wortgetreu nacherzählt. Die Beschreibungen der Vögel entstammten Texten von Dubois, Carre, Cauche und Du Quesne. Der so genannte “gelinotte-bird“ ist dabei eine Mischung aus zwei verschiedenen, bei Du Quesne und Cauche beschriebenen Vögeln und real nicht existent. Adams betont, dass der Erzähler nichts selber erlebt habe. Der Text ist eine fiktive Erzählung, die sich aus verschiedenen Textquellen zusammensetzt (Traveller, 100-102).[2]

Leguates Erzählung ist eine Fiktion, die aber dennoch in gewissem Maße auf Fakten basiert. Während es sich bei der Erzählung Iversens vermutlich um einen mündlich weitergegebenen Bericht eines unwissenschaftlich beobachtenden Augenzeugen handelt, dienten Leguate verschiedene, faktische Reisetexte als Quelle; Erzählmotive und faktische Beschreibungen wurden kopiert und weiterverarbeitet. Somit ist seine Erzählung „unwahr“; die vorgegebenen Ereignisse hat der Erzähler nicht selber erlebt. Dennoch sind viele Details der Erzählung faktisch richtig. So bezeichnet die Encycolopaedia Britannia in der Ausgabe von 1939 den Text Leguates als wichtigste frühe Textquelle über die Naturgeschichte der Insel Roderiguez. Somit ist trotz der Fiktionalität des Textes das Maß an Faktizität noch immer sehr hoch (Adams, Traveler, 103).

Ähnlich verfuhren auch andere Autoren fiktiver Erzählungen. Als Plagiat muß zum Beispiel auch Defoes Text A New Voyage round the World by a Route Never Sailed before gesehen werden. Laut Adams wird hier die Weltumseglung Dampiers nacherzählt, bloß dass die fiktive Reise in östliche Richtung um den Globus führt, während Dampier westwärts segelte. Faktische Beschreibungen übernimmt Defoe dabei detailgetreu aus Dampiers Erzählung (Adams, Traveller, 119-120).

Der zeitgenössische Leser wusste um die Vermischung von Fakt und Fiktion im Erzähltext. Die Möglichkeit der Wiedergabe von Reiseerfahrungen bedurfte daher neuer Klärung.[3]

Die später zu untersuchenden Texte von Neville, Veiras und Smeeks unterliegen ebenso wie der Text Iversens einer oralen Erzähltradition, gleichzeitig aber auch ähnlichen textuellen Beziehungen wie der Text Leguates. Hier wird deutlich, dass Reiseerzählungen unterschiedlichen Erzähltraditionen unterliegen, die sich auch vermischen und meistens nicht mehr klar trennen lassen. So verwertete Defoe zum Beispiel diverse Quellen für seine Erzählungen, unter anderem die Texte von Knox und Dampier, aber auch den Atlas Geographus. In seinem Text Life and Adventure and Piracies of the famous Captain Singleton (1720) beschreibt der Erzähler den Bau eines Bootes, mit dessen Hilfe er die Insel Madagaskar verlässt. Vermutlich entstammt dieses Motiv dem Text Leguates, in welchem ebenfalls von einem Bootsbau und der Flucht von einer Insel erzählt wird (Adams, Traveller, 111-116). Es unterliegt einer textuellen Erzähltradition; ebenso wurde mit dem Robinson-Motiv verfahren, was später detailliert dargestellt wird.

Inhaltliche Übereinstimmung zwischen faktischen und fiktiven Reiseberichten weist Adams in großer Zahl nach; Fakten aus Augenzeugenberichten wurden in Erzählmotive umgewandelt, die wiederum sehr oft auf verschiedene Weise und in unterschiedlichen Texten verwendet wurden. Auch Plagiieren entwickelte sich zum üblichen Mittel der Textgestaltung. Der Wahrheitsgehalt von Reiseerzählungen war weder aufgrund des Inhaltes noch anhand der verwendeten Erzählmittel zu erkennen. Es entstand die „Technik der Illusion“. Der Leser einer Erzählung, die de facto nicht von einem Augenzeugen stammt, sollte durch geschickte Gestaltung des Textes glauben, eine faktische Reisebeschreibung eines Augenzeugen zu lesen. Dabei orientierten sich die Autoren fiktiver Geschichten ebenso an den Richtlinien der Royal Society, wie die Verfasser faktischer Reiseberichte. Detailreiche Beschreibungen von Schiffen, Wetter, historischen Fakten oder Landschaften sollten die Glaubwürdigkeit der Erzählung unterstreichen (Adams, Traveller, 91). Tagebuchartige Gestaltung und eingeschobene Tabellen erwecken den Anschein empirischer Genauigkeit, und detaillierte Naturbeschreibungen – wie das Beispiel von Leguate gezeigt hat – verleihen dem Text die Glaubwürdigkeit einer echten Reiseerzählung. Während faktische Reisebeschreibungen im Sinne der Royal Society Massen an empirischen Informationen wiedergeben, benutzten Autoren fiktiver Erzählungen diese Texte, um ihre eigene Erzählung mit Details zu versehen und glaubwürdiger zu machen. Nicht nur Erzählmotive unterlagen also einer bestimmten Erzähltradition, sondern, untrennbar damit verbunden, auch ein realistischer, beschreibender Stil, der eben die notwendige Glaubwürdigkeit produzierte. Diese Dynamik hat zur Folge, dass zwischen Fakt und Fiktion nicht klar getrennt werden kann: “Real reports were normaly viewed with skepticism, wereas fictional ones were often so artfully contrieved that they were recieved as real. The two modes of discourse overlapped as long as the place referred to remain empirically unknown“ (Fausett, New World, 6). Es entsteht ein realistischer Erzählstil, der die Reiseerzählung des späten siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhunderts prägt und den man bei Defoe als “circumstancial realism“ wieder findet (Kalb, 412).[4]

Darüber hinaus verwendeten Autoren auch fiktive Reiseerzählungen als Quelle, wie an der Beziehung von Defoes Captain Singleton zu Leguats Text beispielhaft dargestellt wurde. Reale Ereignisse, in faktischen Erzählungen dargestellt, unterliegen in ihrer Verwendung als Erzählmotiv einem Prozess der Fiktionalisierung, der schon mit der ersten textuellen Verfassung oder oralen Überlieferung durch den Augenzeugen beginnt (siehe unten).

Die Erzähltechnik der „Illusion“ [5], die bei Veiras, Smeeks und auch Defoe zu finden ist, unterliegt ebenfalls einer bestimmten Tradition. So waren fiktive Reiseerzählungen zumeist in einen übergeordneten Erzählrahmen eingebettet, um den Anschein von Echtheit noch zu steigern. Die Gestaltung des Titelblattes spielte hier eine wichtige Rolle, da hier schon eine übergeordnete Erzählsituation dargestellt wird, und keine Auskünfte über den tatsächlichen Autor gegeben werden. Um diese Erzähltradition und ihre Verbreitung deutlich zu machen, wird sie kurz anhand einiger Beispiele erklärt:

So gaben sich Erzählerfiguren schon auf der Titelseite als Autor der Geschichte aus und versicherten, dass ihr Bericht eine Nacherzählung wirklicher, persönlich erlebter Ereignisse sei. Dieses ist zum Beispiel im Text A New Voyage to the East Indies (1715) von William Symson der Fall (Adams, 1).[6] Oftmals ist dadurch nicht mehr nachzuvollziehen, wer der tatsächliche Autor eines Reiseerzähltextes ist. So ist bis heute nicht genau bekannt, von wem der Text Madagascar, or Robert Drurys´Journal tatsächlich stammt (Adams, “Travel Literature“, 502). Viele Kritiker ordnen ihn Defoe zu.

Auch George Psalmanazar täuschte so seine Leser. Er war aber, im Gegensatz zu Robert Drury, eine reale Person.[7] Am Beispiel seiner Erzählung wird die Funktion und Wirkung der „Technik der Illusion“ deutlich. In seinem Text An Historical and Geographical Description of Formosa (1704) wird die Geschichte, Gesellschaft, Religion und Sprache Formosas beschrieben. Der Autor und Erzähler Psalmanazar versichert im Vorwort die Echtheit seiner Erzählung und setzt sich zum Ziel, die Leser über die vielen falschen Geschichten über die Insel Formosa aufzuklären. Er behauptet, selber auf Formosa gewesen zu sein und seine eigenen Beobachtungen niedergeschrieben zu haben (Adams, Traveller 94). Sein Text verkaufte sich sehr gut, obwohl er die Erzählung vollständig erfunden hatte und der Bezug zur Realität sehr gering war. Die reale Person Psalmanazar war in der Londoner Gesellschaft bekannt, wo sie die Lüge, auf Formosa gewesen zu sein, gegenüber ihren Zeitgenossen verbal weiterspann. Obwohl Psalmanazars Erzählung fiktiv ist und er niemals auf Formosa gewesen war, täuscht er seine Leserschaft und seine Mitmenschen geschickt, unter anderem durch die Schilderung unglaublicher Details. So erfindet Psalmanazar sogar eine fiktive Sprache mit vollständiger Grammatik und beschreibt einen kompletten, utopischen Staat. Seine Darstellung der Religion Formosas ist der Beschreibung der Religion der Sevarambes im utopischen Text Veiras sehr ähnlich und war, da moderne philosophische Ideen eingearbeitet waren, für die Leser interessant und glaubwürdig. Einige seiner Behauptungen stießen aber auch auf Skepsis. So zum Beispiel fiel es seinen Zeitgenossen schwer zu glauben, dass in allen Schulen auf Formosa griechisch unterrichtet werde, und dass am Neujahrstag jährlich achtzehntausend Jungen unter neun Jahren geopfert würden (Adams, Traveller, 93-97). Seine Zeitgenossen entwickelten daher ein ambivalentes Verhalten gegenüber dem Wahrheitsgehalt seiner Erzählung. Seine „Technik der Illusion“ ging über einen rein textuellen Bezug hinaus; er lebte die Fiktion im realen Leben weiter. Seine Erzählung ist hier von Interesse, da sie das Entstehungsklima fiktiver Reiseerzählungen und Utopien verdeutlicht, in welchem auch die unten analysierten Texte entstanden sind.

Oft geben sich die tatsächlichen Autoren auf dem Titelblatt des Textes als „Herausgeber“ aus und erklären in einem Vorwort, wie sie in den Besitz der Erzählung gelangt seien und stellen ihre angebliche Beziehung zum scheinbar real existierenden Erzähler dar. Laut Adams behaupten „Herausgeber“ in ihrem Vorwort oftmals, den Text aus den Händen des sterbenden Erzählers empfangen zu haben (Travel Literature and the Novel, 99). Hier wird schon auf der Titelseite die eigentliche Erzählsituation dargestellt; echte verlegerische Informationen werden zurückgehalten. Das Verlegen von Texten anderer war seit Hakluyts durchaus üblich und seine Vorgehensweise diente hier als Vorlage. Das Fehlen der realen Hintergründe der Erzählung wird durch diese Methoden verschleiert. Die Inhalte der Erzählung werden unwiderlegbar, was dem Text Glaubwürdigkeit verleiht. Die reale Person des Autors kann darüber hinaus jede Verantwortung für den Wahrheitsgehalt oder philosophischen Inhalt der Erzählung verleugnen. Dieser Technik bediente sich zum Beispiel Defoe. Im Vorwort zu Robinson Crusoe bezeichnet sich ein übergeordneter Erzähler als “Editor“ der folgenden Ich-Erzählung: “The editor believes the thing to be a just history of fact; neither is there any appearance of fiction in it“ (25).[8] Defoes Name taucht auf der Titelseite der Originalausgabe von 1719 gar nicht auf; auch bleibt der Name des angeblichen Verlegers unbekannt. Die Figur Robinson Crusoe wird jedoch als Autor der Erzählung dargestellt. Ross betont, dass die Erzählung durch diesen Umstand glaubwürdiger werde. Bei der Annahme, dass Defoe diese Methode erfunden hat, täuscht sich Ross (13). Auch Smeeks und Veiras entzogen sich nämlich schon jeder Verantwortung für den Text und versteckten sich hinter der Fassade des Herausgebers. Wie Crusoe bei Defoe gibt Smeeks seine Erzählfigur de Posos als Autoren der Erzählung aus und bezeichnet sich als denjenigen, der die Schriften de Posos zusammengestellt habe (1). Tatsächlich führten Smeeks und Veiras Erzählungen zu Konflikten mit kirchlichen Instanzen, sodass beide die Möglichkeit nutzten zu behaupten, den Text nicht selber verfasst, sondern lediglich verlegt zu haben. Dieser Sachverhalt wird später noch genauer erläutert.

Adams macht deutlich, dass die Vortäuschung von Echtheit ein sehr wichtiges stilistisches Element von Reiseerzählungen war: “The novel-reading public wanted to believe that what it read was true or at least it wanted to be told that the stories were real“(Travel Literature and the Novel, 97). [9] Aus verkaufstechnischen Gründen wurden fiktive Reiseerzählungen als echt deklariert. Dennoch wird hier das Klima für die Entstehung des Romans als literarische Gattung geschaffen. Fiktive Texte ließen sich nämlich besser verkaufen als faktische Erzählungen, da hier zumeist nicht nur Fakten aneinandergereiht wurden (siehe Dampier), sondern meist eine spannende Geschichte erzählte wurde und der Text freizügiger gestaltet werden konnte (Fausett, New World, 6)

3.2. Fiktionalität faktischer Beobachtungen

Ein weiterer wichtiger Grund der Untrennbarkeit faktischer und fiktiver Erzählungen liegt in der Subjektivität der Beobachtung per se (was oben schon kurz angedeutet wurde). In vielen faktischen Reiseerzählungen werden Beobachtungen fehlerhaft wiedergegeben, oder der Erzähler berichtet von oral überlieferten Legenden, die er nicht deutlich von persönlichen Beobachtungen abgrenzt (Adams, Traveller, 4). Auch schlagen sich persönliche Eindrücke des Beobachters in Reiseerzählungen nieder. Beschreibungen von Entfernungen, Wetterbedingungen, die Höhe des Wellenganges oder die Beschreibungen fremder Völker sind davon beeinflusst; es kam zu Übertreibungen. Da Reiseerzählungen oftmals als Grundlage für Kartographen dienten, findet man diese subjektiven Eindrücke der Reisenden auch in Kartenmaterial dieser Zeit wieder (Adams, Traveller, 16-17). Retrospektiv verfasste Reiseerzählungen können einen höheren Fiktionalisierungsgrad aufweisen als sofort nach der Beobachtung niedergeschriebene Texte, da sich hier persönliche Eindrücke verstärken können oder bestimmte Informationen einfach vergessen werden (Adams, Traveller, 80). Oftmals wurden Reiseerzählungen auch zu Verkaufszwecken verlängert, beschönigt und editorisch verändert (Adams, Traveller, 9). Politische Überzeugungen, religiöse Sichtweisen, nationale Herkunft und Weltbild bestimmen die Sichtweise des Beobachters, was laut Adams die Subjektivität von Beobachtungen belegt (Traveller, 179). So ist beispielsweise die Beschreibung des Vulkanes Etna im Text De Aetna (1495) von Pitro Bembo von den mittelalterlichen Vorstellungen der Geschehnisse unter der Erde geprägt. Seine Beobachtungen sind, dem mittelalterlichen Weltbild entsprechend, faktisch richtig. Sie wurden damals als „wahr“ empfunden, unterscheiden sich aber sehr von der heutigen Auffassung von „Wahrheit“ (Martels, XIX). Auch die Überbewertung der eigenen Rolle oder bestimmte Rahmenbedingungen wie beispielsweise Erfolgsdruck konnten dazu führten, dass Reiseerzählungen nicht wirklich den realen Ereignissen entsprachen (Martels, XII).

Faktische Reiseerzählungen werden durch subjektive Eindrücke des Beobachters und den Rahmenbedingungen sowohl der Beobachtung als auch der textuellen Verfassung mitbestimmt; sie sind also als fiktionalisierte „Realität“ zu betrachten.

Martels sieht daher Autor und Text als untrennbare Einheit an (XVII).[10]

Oftmals kam es so zu unterschiedlichen Beschreibungen des gleichen Phänomens; auch wurden Reiseberichte durch Gegendarstellungen in Frage gestellt. Uneinigkeiten über den „Wahrheitsgehalt“ von Reisebeschreibungen waren zahlreich. So wird beispielsweise eine Meuterei während der zweiten Weltumseglung Dampiers in drei verschiedenen Texten völlig anders dargestellt.[11]

Die Untrennbarkeit von faktischen und fiktiven Texten hatte zur Folge, dass der Boden für fiktive Erzähltexte bereitet wurde, in welchen bewusst nicht die „Wahrheit“ dargestellt ist, sondern eine spannende und unterhaltende Geschichte erzählt wird. Der Verkauf fiktiver Texte wurde leichter; Texte, in welchen „Echtheit“ durch erzählerische Mittel vorgetäuscht wurde, ließen sich ebenso gut verkaufen, wie faktische Reiseerezählungen. Die Frage nach der Authentizität der Erzählung verlor als Bewertungskriterium für Reisetexte an Bedeutung. Dafür kam der Textgestaltung und deren künstlerischer Wert sowie dem Unterhaltungswert des Erzähltextes mehr Bedeutung zu. In diesem Klima textueller Vermischung von Fakt/Fiktion konstituiert sich auch die Vor- Defoesche Robinsonade.

3.3. Fakt, Fiktion und Mythos- das Bild des „Wilden“ und die Kulturbegegnung

In diesem Klima entstehen Vorurteile und Mythen, die sich in den nachfolgend untersuchten Erzähltexten ebenso wieder finden, wie in faktischen Reiseberichten oder im Weltbild jener Zeit. Beispielhaft soll kurz am Beispiel des Erzählmotivs der „Kulturbegegnung“ dargelegt werden, wie die oben dargestellten textuellen Dynamiken zur Entstehung und Verbreitung von Bildern beitragen, die über den textuellen Zusammenhang hinaus Einfluss auf gesellschaftliche Dynamiken haben.

Zeitgenössische Leser waren in ihrer Wahrnehmung der Fremde zunächst auf Reiseberichte angewiesen, so dass die textuelle Darstellung von „Wilden“ zu einem bestimmten Eindruck führen konnte, der letztendlich auf der Subjektivität des Beobachters basierte und damit den eben beschriebenen Dynamiken unterliegt. Bei Dampier findet man beispielsweise ausführliche Schilderungen der Geschicklichkeit der Moskiten beim Jagen und Fischen (34-35).[12] Er schildert ihre gute körperliche Verfassung, ihren Mut und ihre Loyalität: “They have extraordinary good Eyes, and will discry a Sail at Sea farther, and see anything better than we.[…] They behave very bold in fight, and never seem to flinch nor hang back“ (15, 16). Seine eigenen guten Erfahrungen mit Moskiten lassen Dampier ein sehr positives Bild dieser Ethnie zeichnen. Respekt und Bewunderung vor den Fähigkeiten und Gewohnheiten der Moskiten wird dadurch impliziert und auch explizit zum Ausdruck gebracht: “The Moskito´s are in general very civil and kind to the English, of whom they recieve a great deal of Respect, both when they are abourd their Ships, and also ashore “(17).

Schon im sechzehnten Jahrhundert führte der Kulturvergleich mit fremden Völkern zur Kritik an der eigenen Gesellschaft, da Missstände durch den Blick auf eine andere Gesellschaftsform leichter erkannt werden konnten. Alte Werte gerieten dadurch ins Wanken; politische Oppositionelle und Philosophen gelangten dadurch zu neuen Erkenntnissen. Diese Entwicklung nimmt vor allem in Holland ihren Anfang (Fausett, “Tall Ships“, 65).[13]

So attackierte beispielsweise der Philosoph Montaigne (1533-92) die europäische Kultur allgemein und die Lebensweise am französischen Königshaus insbesondere, indem er die Lebensweise von „Naturgesellschaften“ in Übersee als „einfach“ und „gesund“ darstellte und im Vergleich dazu die „Lasterhaftigkeit“ der Europäer betonte. Reiseerzählungen dienten ihm für diesen Vergleich als Informationsgrundlage. Diese interpretierte er aber entsprechend seines politischen Zieles; das Bild des „Wilden“ wurde idealisiert und beschönigt, um der Kritik an der eigenen Gesellschaft zu dienen (Adams, Traveller,197). Auch Denis Veiras und Gabrielle de Foigny benutzen das Erzählmotiv der Kulturbegegnung. Sie stellen den „Wilden“ in einer utopischen, idealtypischen Gesellschaft dar. Ihre fiktive Schilderung des „Wilden“ und seiner Sitten und Bräuche dient auch hier dazu, Missstände in der eigenen Gesellschaft aufzuzeigen, ohne diese direkt benennen zu müssen. Das Motiv des textuellen „Kulturvergleichs“ stammt aus der Schilderung von faktischen Kulturbegegnungen in Reiseerzählungen. Dieses Motiv finden wir auch bei Smeeks und Defoe wieder.

Reiseerzählungen über „Wilde“, wie beispielsweise bei Dampier werden also nach eigenem Belieben interpretiert, und bestimmte Bilder finden ihren Ausdruck in Form des literarischen Motivs der Kulturbegegnung.

Der Einfluss der Reiseerzählungen auf das Bild des „Wilden“ in der Philosophie ist nachhaltig. Rousseau, beispielsweise, stellt 1755 den „Naturmenschen“ als „Instinktwesen“ dar, welcher aufgrund seiner guten Sinnesorgane leicht für seinen täglichen Lebensunterhalt sorgen kann und Alter und Tod nicht fürchtet. Er sagt, der „Naturmensch“ sei weniger leidenschaftlich und kenne aufgrund mangelnden Privatbesitzes keinen Neid. Rousseau romantisiert das Leben des „Wilden“ und unterstellt ihm eine glücklichere Lebensweise. Es entsteht um 1750 ein schwärmerisches, romantisch verklärtes Bild des „Edlen Wilden“, welches sich in Europa als Idealvorstellung über Jahrhunderte hält (Bitterli, 283).

Ob es sich bei Rousseaus Bild des „Wilden“ um eine hypothetische Figur handelt, welche nur dazu dienen soll, Kritik an der eigenen Gesellschaft zu ermöglichen, oder ob der „Wilde“ tatsächlich so gesehen wurde, ist ungewiss. Allerdings dient ihm dieses Bild dazu, gesellschaftliche Veränderungen zu fordern, die sich am „glücklichen Naturzustand“ des „Wilden“ orientieren (Bitterli, 281, 286). Auch Rousseau bezog seine Informationen über die „Wilden“ aus Reiseerzählungen, die er nach Bedarf interpretierte.[14] Schilderungen der Geschicklichkeit der Fremden und der Einfachheit ihrer Lebensweise, wie wir sie beispielsweise bei Dampier finden, sind bedeutender Faktor der Genese dieses Bildes des „Wilden“.

Gleichzeitig kann aber auch ein völlig anderes Bild erkannt werden. So entsteht auch das des „hässlichen Wilden“. Hier manifestieren sich Ängste vor Veränderungen in der eigenen Gesellschaft (Fausett, Stange Sources, 34). Die Andersartigkeit und mangelnden Gemeinsamkeiten mit dem Fremden rechtfertigt hier eine ablehnende Haltung. So zum Beispiel entsteht das Bild des „hässlichen Hottentotten“ (Bitterli, 26). Oftmals wurde auch genau das beschrieben, was Reisende schon vorher zu beobachten erwarteten.: „So konnte es beispielsweise geschehen, dass sich, nachdem die abscheuliche Hässlichkeit der Hottentotten einmal apodiktisch festgestellt war, Dutzende von Reisenden darin überboten, dieses Volk in Erscheinung und Sitten boshaft zu verzeichnen, wodurch eine ernstzunehmende Studie über eine der interessantesten Völkergruppen Schwarzafrikas sehr verzögert wurde“ (26).

Übertreibungen von „Hässlichkeiten“ und Sensationssucht zum Beispiel in Form von Schilderungen über „Menschenfresser“ einerseits und die Romantifizierung der Schönheit, Geschicklichkeit und des Edelmutes der Fremden andererseits produzierte zwei völlig unterschiedliche Bilder, die weitestgehend parallel existierten (Adams, Traveller, 197-199). Auch Adams macht deutlich, dass Reisende oftmals den „Wilden“ genau so beschrieben, wie sie ihn schon vorher als Bild im Kopf hatten. Beobachtungen unterliegen seiner Meinung nach stets einem bestimmten Vorwissen und werden durch dieses unbewusst mitbestimmt, so dass es auch hier keine „Objektivität“ gibt (Traveller, 16, 199). Faktische Reiseerzählungen sind also einerseits Faktoren, die zur Verbreitung eines Bildes beitragen, andererseits unterliegen sie aber auch schon den oben beschriebene Prozessen. Somit generieren verschiedene Bilder des „Wilden“, die, wie deutlich gemacht wurde, einen weitreichenden Einfluss auf die geistige und politische Entwicklung des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts hatten. Das Bild des „Edlen Wilden“ gewinnt dann in der Romanik durch den oben beschriebenen Einfluss Rousseaus die Oberhand; es hat aber seine Wurzeln sowohl in der faktischen, wie auch in der fiktiven Reiseerzählung des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts.

Ebenso ist das Erzählmotiv der Kulturbegegnung der fiktiven Reiseliteratur ein Faktor bei der Genese bestimmter Bilder. Bei Defoe, beispielsweise, findet man einerseits den unzivilisierten, „hässlichen Wilden“ in Form der Kannibalen, andererseits vermitteln unter anderem Beschreibungen des physischen Erscheinungsbildes Freitags das Bild des „Edlen Wilden“ (208-209). Beide Bilder existieren parallel und sind nicht klar voneinander zu trennen.[15] Auch in den Texten von Veiras und Smeeks unterliegt das Motiv der Kulturbegegnung und das damit verbundene Bild der „Wilden“ der hier beschriebenen Dynamik: Faktische und fiktive Erzählelemente sind nicht voneinander zu unterscheiden, und das hier gezeichnete Bild spiegelt einerseits eine bestimmte Vorstellung wider, trägt aber auch gleichzeitig zur Entstehung eines bestimmten Bildes des Wilden (in diesen Fällen das des „Edlen Wilden“) bei.

Grundsätzlich sind Beschreibungen von „Wilden“ kaum in die Kategorien „Fakt“ oder „Fiktion“ zu trennen. Es entstehen Klischees und Mythen aus sich selbst heraus. Adams macht deutlich, dass die Entstehung von Mythen allgemein, wie zum Beispiel auch die Mythologisierung des Motivs der Nordwest-Passage, auf ähnlichen Dynamiken beruht; Reisende täuschten sich selber, da sie etwas Bestimmtes zu beobachten hofften:

The result of the deception and the reason for it were often related, particulary in the realm of hopes, such as those concerning the Northwest Passage, or ideas, such as those concerning the character of the Noble Savage; for a traveller could distort appearance to make them conform with a set of notions derived from previous travellers and theorists, and then his report would become part of a myth, self-fed but not self-consumed (Traveller, 16).

3.4. Veränderte Rezeption von Reisetexten durch die Vermischung von Fakt und Fiktion

Die eben dargestellte Untrennbarkeit von Fakt und Fiktion hat für die Entstehung der fiktiven Erzählung in Form der Robinsonade eine wichtige Bedeutung. Fausett macht deutlich, dass durch die Vermischung von Fakt und Fiktion und die Fiktionalisierung von faktischer Beobachtung in der Reiseerzählung „Wahrheit“ nicht als transzendental gegeben und objektiv darzustellen erkannt wird, sondern als stets durch die Erfahrungswelt des Reisenden bestimmt erscheint. Der Leser setzt sich beim Lesen eines Reisetextes mit dem Prozess der Wahrheitsfindung eines anderen auseinander. Er ist nicht selbst daran beteiligt, sondern blickt auf eine fertige Interpretation von „Wahrheit“ und „Welt“. Ihm bleibt nur die Rolle des „Beobachters“. Seine Rolle und sein Blick sind ihm durch die Gestaltung des Textes vorgegeben (New World, 163). Diese Erkenntnis ebnet nachfolgend dem Reiseroman und der Robinsonade der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts den Weg. Fiktive Reiseerzählungen werden als eigenständige Gattung anerkannt, da sie sich offensichtlich nicht mehr mit „Wahrheitssuche“ befassen, sondern hier bewusst von „Unwahrheiten“ erzählt wird, denen aufgrund ihrer Gestaltung ein künstlerischer Wert und Unterhaltungswert zuerkannt wird. Wissenschaftliche Untersuchungen wurden mehr und mehr fachspezifisch durchgeführt und verarbeitet. Es entsteht einerseits die moderne Wissenschaft, die sich mit der Erkenntnis von „Wahrheit“ beschäftigt. Objektivismus und Empirismus werden zur wissenschaftlichen Methode (Fausett, Strange Sources, 129). In Abgrenzung dazu etabliert sich andererseits die Robinsonade am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts als eigenständige literarische Gattung und als Institution der „Unwahrheit“.

Fausett sieht dieses als Ergebnis eines textuellen und sozialen Prozesses an, der durch Reiseerzählungen maßgeblich bestimmt wird und der schon bei den frühen Reiseerzählungen Mandelvilles beginnt:

But already Mandelvilles´ realistic fiction has exposed the fact that […] truth (particularly about the exotic) has no transzendental basis; it is born of an organic social matrix and is problematized as the latter opens onto a world of difference.[…] The controversy over the ´truth´ of Mandelvilles documents suggests that in it be found one seed of the crisis over historicity and significance which signaled the birth trauma of the modern novel ( New World, 41).

4. Das Robinson-Motiv

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[1] Davon abgesehen konnte mit der Selektion der zu veröffentlichenden Informationen politisch agiert werden.

[2] Diese Erzählung hatte lange einen großen Einfluss auf die Ornithologie. So bekommt der hier Beschriebene, fiktive “gelinotte bird“ nach der Einführung des Linneschen Systems (1735) den wissenschaftlichen Namen „Erythromachus Leguati“ und wird 1899 offiziell für ausgestorben erklärt (Adams, Traveller, 102-103).

[3] Dieser Punkt wird später noch genauer diskutiert.

[4] In Kapitel 2 wurde der realistische Erzählstil von Knox, Dampier und Hakluyts unter anderem mit dem Defoes verglichen. Die in diesem Kapitel dargestellte textuelle Erzähltradition, die mit den oben analysierten Augenzeugenberichten beginnt, und sich bis Defoe fortsetzt, erklärt die stilistischen und inhaltlichen Ähnlichkeiten der Texte.

[5] Der Begriff „Technik der Illusion“ wird von verschiedenen Kritikern Vor- Defoescher Reiseerzählungen verwendet. Der Begriff kennzeichnet die erzähltechnischen und stilistischen Mittel einer fiktiven Erzählung, mit welchen der Leser in den Glauben versetzt werden soll, einen faktischen Reisebericht zu lesen, der auf realen Ereignissen basiert und von einem Augenzeugen verfasst wurde.

[6] Jenny Mzciems macht deutlich, dass dieser Text eine fiktive Erzählung ohne faktischen Hintergrund ist, betont aber, dass sich der Erzähler als „wissenschaftlich“ interessiert ausgibt, obwohl die Erzählung tatsächlich eher naiv sei (11-12). Durch die Vortäuschung eines wissenschaftlichen Anspruchs des Erzählers konnte hier dem Text eine Scheinauthentizität verliehen werden.

[7] Georg Psalmanazar war vermutlich gebürtiger Franzose und lebte lange Zeit unter diesem Namen in England. Ob es sein richtiger Name war, ist nicht bekannt (Adams, Traveller,93).

[8] Der Erzähler spricht von sich in der dritten Person. Dieses verursacht noch weitergehende Verwirrung über die Person des “Herausgebers“ und dient ebenfalls der Täuschung des Lesers.

[9] Adams bezeichnet die hier als fiktive Reiseerzählungen benannten Texte zwar als „Roman“, strenge Definitionen unterschiedlicher literarischer Gattungen lehnt er aber ab (Travel Literature and the Novel, 1). Tatsächlich tragen diese Texte zur Entstehung der Gattung „Roman“ bei, was bei der noch folgenden Untersuchung der Texte Veiras, Smeeks und Defoes deutlich wird. Hier wird – in Einklang mit Adams – die Entstehung des Romans als Prozess gesehen, der mit den hier beschriebenen textuellen Dynamiken der Reiseerzählungen eng zusammenhängt. Man kann diese Texte daher als „Frühform“ des Romans bezeichnen, darf aber nicht vergessen, dass zwischen Reiseerzählungen und Roman (und Utopie) nicht klar unterschieden werden kann.

[10] Martels geht hier davon aus, dass der Autor auch gleichzeitig Augenzeuge ist.

Darüber hinaus macht Martels ebenfalls deutlich, dass sich Autoren faktischer Reiseerzählungen nicht über ihre eigene Subjektivität bewusst waren. Was vom Leser als Fiktion erkannt wird, kann vom Beobachter als „real“ empfunden worden sein (XVIII).

[11] Der als Meuterer bezichtigte William Funnell nahm an der Weltumseglung unter der Leitung Dampiers teil. Er veröffentlichte anonym den Text Voyage Round the World: Containing an Account of Captain Dampiers´ Expedition (1707), in dem er die Reise aus seiner Sicht darstellt. Dabei stellt er die Führungsqualitäten Dampiers in Frage und rechtfertigt sich gegen den Vorwurf der Meuterei durch eine detaillierte Schilderung der Vorgänge aus seiner Sicht. Dieses veranlasste Dampier zur Veröffentlichung des Textes Vindications of His Voyage to the South Seas in the Ship St. George. Auch erschien die Darstellung der gleichen Reise aus der Sicht des Fähnrichs zur See John Welbe im Text Answers to the Vindications. Welbe wirft Dampier Trunkenheit vor und schildert die Ereignisse bezüglich der Meuterei wieder etwas anders (Adams, Traveller, 164-165 und Gray, XXX).

[12] Moskiten waren Ureinwohner der Küste Honduras. Angehörige dieser Ethnie wurden oft auf Schiffen als Besatzungsmitglieder angeheuert, da sie als erfahrene Jäger leicht Nahrungsmittel beschaffen konnten (Haken, 10).

[13] In Holland erkennen die Behörden schnell die Gefahren für die Stabilität der eigenen Gesellschaft, die von Reiseerzählungen ausgeht. Daher wurde hier verhindert, dass Berichte über überseeische Aktivitäten, vor allem vor der australischen Küste, an die Öffentlichkeit gelangten. Daher entstand in Holland vermutlich eine orale Erzähltradition, durch welche Informationen und Ereignisse inoffiziell weitergegeben wurden. Auch hatte die Informationsblockade der holländischen Behörden 1668 einen Boom von realistischer Reiseliteratur zur Folge (Fausett, “Tall Ships“, 65; Strange Sources, XXXIV).

[14] Bitterli betont in diesem Zusammenhang, dass die „Bedeutung der Reiseliteratur für die kulturgeschichtlichen Leistungen der Aufklärungszeit“ kaum zu überschätzen seien (270). Hier wird die Dynamik zwischen dem Wandel des Weltbildes, der sich vor dem Beginn des „Zeitalters der Aufklärung“ abzeichnet, und der textuellen Darstellung der überseeischen Kulturbegegnung deutlich.

[15] Bitterli sagt aus, dass Robinson Crusoe in besonderer Weise zur Genese des Bildes des „Edlen Wilden“ beiträgt (403). Tatsächlich zeigt sich Rousseau in seinem Text Emile oder Über die Erziehung von Defoes Text stark beeindruckt. In der Schilderung des „naturnahen“, also „wilden“ Lebensstils Crusoes erkennt er die ideale Gesellschaft: “Das ist der wahre Wunschtraum dieses zufriedenen Alters, in dem man kein anderes Glück kennt als ein Leben in Einfachheit und Freiheit“ (181). Die „wilde“ Gesellschaftsform wird hier glorifiziert.

 

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