Über die Zehntscheune in Neustadt am Rübenberge
Der Begriff „Zehnt“ bezeichnet eine etwa zehnprozentige traditionelle Steuer in Form von Geld, Naturalien oder Hand- und Spanndiensten an eine religiöse (z. B. Kirche) oder weltliche (König, Grundherr) Institution. Diese Abgaben gab es seit biblischen Zeiten und war bis ins 19. Jh. üblich. Die abzuliefernden Naturalien, Getreide, Vieh usw. wurden allgemein in Zehntscheunen gesammelt. Später konnten die Verpflichtungen gegen die Grundherren abgelöst werden, sie wurden aufgehoben oder durch andere Steuerregelungen ersetzt. (z. Z. zitiert aus Wikipedia)
Unter der Zehntordnung hatten die Ackerbürger sehr zu leiden. Es durfte keine Garbe eingefahren werden, bevor nicht der Zehntvoigt das betreffende Landstück „ausgezehntet“ und das ihm zustehende in die Zehntscheune gefahren hatte. Noch schlimmer war die Bestimmung der Zehntordnung, dass auf zehntpflichtigem Land nur „Zehntfrüchte“ angebaut werden durften, nämlich Roggen, Hafer,Gerste, Weizen. Kartoffeln und Gemüse waren nicht zehntpflichtig, die Berechnung einer entsprechenden Entschädigungssumme für das entganngene Zehntkorn führte immer zu Schwierigkeiten mit dem Grundherren (Nach Winkel, S. 344 ff)
Auch in Neustadt existierte bis 1979 eine Zehntscheune, die ursprünglich dem Herzogtum Calenberg und seinen Nachfolgern als Grundherren direkt unterstand. Sie stand im Stadtkern von Neustadt a. Rbge. in der Nähe des Schlosses zwischen der Kirche und der Jugendarrestanstalt. In der Länge reichte sie von der Schlossstrasse bis zur (damaligen) Schulstrasse, der heutigen Strasse „An der Liebfrauen-kirche“. Sie stand direkt neben der ehemaligen Schule, auch bekannt als „Haus Poppe“ oder, heute, „Storchenhaus“. Sie soll seit dem 14.-15. Jahrhundert bestanden und besonders als Getreidelager gedient haben. 1979 musste das Baudenkmal dem Neubau der Herzog- Erich- Allee weichen und wurde abgerissen. Heinz Wiegmann aus Luttmersen erwarb den Bau und richtete ihn in ähnlicher Form im Neustädter Ortsteil Amedorf an der ehemaligen Ziegelei wieder auf. Dort dient sie heute als „Eventscheune“.
Baugeschichte
In einer Rekonstruktion der welfischen Burg und des Stadtzentrums vermutet Rühling im Vorfeld der alten Schlossanlage schon im 14. Und 15. Jh. ein umfangreiches Vorwerk.(Rühling, Dissertation 1988)
Seit den Calenberger Herzögen Erich I. und Erich II. hatten das Schloss und sein Zubehör nicht mehr die Aufmerksam-keit der nachfolgenden Landesherren in Wolfenbüttel oder später Hannover. Daher wurden das Schloss, nunmehr nur Amtsverwaltung, und die dazugehörenden Gebäude in grösseren Zeitabständen neu inventarisiert, dabei auch immer die Zehntscheune.
Aus 1661 liegen die „Inventarii von dem Neustädtischen Ambs- und Vorwerksgebeuden, wie dieselben im November 1661 in Stande gefunden, beschrieben durch Jacob Voigt Amtmann zu Schloß Ricklingen“
( HstAH Hann 74 NRÜ 2588, übertragen von Frau Kattmann )
Der Rektor Schütze von der Knabenschule, (dem heutigen „Storchenhaus“), berichtete 1707, dass seine Schule hart an einem „churfürstlichen“, also staatlichen Gebäude lag. Darunter ist die Zehnscheune zu verstehen. (aus Barby S 230)
Diese Scheune ist auch im Brandplan von 1727 belegt. Sie war letzter bedeutender Rest eines Vorwerksgeländes, dem ein „Pforthaus“ vergelagert war.
1720 wird die Zehntscheune beschrieben, darin ein Pferdestall mit Krippe, ein Knechtslager, auch ein Kuh- und Kälberstall. „Das Dach ist auf der Nordseite ganz neu gelattet und größtenteils mit neuen Ziegel auch durchgehend in Kalk gelegt wie auch der Knickgiebel im Osten…“
( HstAH Han 74 NRÜ 4573 übertragen von Frau Kattmann )
Östlich der Kirche verläuft die Schlossstrasse (In der Zeichnung unten, sie hieß also damals schon so). Westlich liegt die Schulstrasse (oben, heute „An der Liebfrauen-kirche“). Die Schule entspricht dem heutigen „Storchenhaus“. Links davon erkennen wir die „Ambts Scheune“. Die Zehntscheune war also von jeher dem Amt, d.h. den Fürsten, nie der Kirche zuzuordnen. Den grossen Brand von 1727 hat das gesamte Gebäudeensemble offensichtlich heil überstanden.
Im Regionsarchiv hat Frau Kattmann die schwer leserliche Schrift eines Inventarverzeichnisses von 1747 übertragen. Es beschreibt detailliert den Umfang und Zustand des Gebäudes: „174 Fuß lang, 45 Fuß breit, die Wände sind theils gemauret, teils gestrahlt und gekleibet, das Dach mit Ziegeln beleget und mit Kalk eingefaßet. Vorne an der Einfahrt 2 Thorflügel von Tannenbrettern mit Eichenleisten….“ Aufgezählt werden ferner Gänsestall, Hühner- und Tauben-kammer, Pferdestall, Kuhstall, Füllenstall.

Auszug aus einer Innventarliste von 1747 – HstAHan , Han74 NRÜ 685 Inventar – Kopie im RAH „Archivalien Schloß NRÜ VI (K106)
Aus dieser Inventarliste kann man schliessen, dass die Aufbewahrung des Zehntkorns, das dem Amt abgeliefert werden musste , im Jahre 1747 nicht mehr den gesamten Raum der Zehntscheune in Anspruch nahm.
In einem Verzeichnis über die Grösse und den Inhalt der herzoglichen Gebäude wurde 1798 die „Zehntscheure“ (sic) erwähnt, zugleich (?dre.al. Kammer?) und den Stall für das Hornschweinvieh enthaltend. Die Grösse hat sich nicht verändert, nach heutigen Maßstäben also ca. 50- 51 m lang und 13 m breit. Während bei verschiedenen Gebäuden der Schloßanlage das Alter angegeben wird, (z.B. das Wohnhaus =Schloss 1573, ein Hühnerhaus 1765, das Pfort- und Gefangenenhaus 1766), bleibt das Alter der Zehnscheune hier unbestimmt. (Han 74 NRÜ, 4587)

Blick auf die historische Zehntscheune in Neustadt. Seit 1841, nach dem Bau des „Criminal- Gefangenenhauses mit 20 Criminal- Cojen“, vorne links im Bild, hat sich nicht mehr viel verändert.
1878 wird wiederum Inventur gemacht, dabei wird betont, dass die Zehntscheune nicht dem Regierungsrath Schwarzkopf (dem im Schloss residierenden und wohnenden Amtmann für die Kreisverwaltung) mit übergeben worden sei. Sie bleibt Eigentum des Preussischen Staates. Als Eigentümer ist 1882 der „Domainen-Fiscus“, später etwas genauer der „Königlich Preussische Staat, Domainen-verwaltung“, eingetragen. Später ist die Justizverwaltung des Deutschen Reiches zuständig. Nunmehr wird dort nur noch Feuerungsmaterial zum Gefangenenhause gelagert, Stallungen des Gefangenenwärters, 2 Räume für den ersten Amtsrichter usw. werden aufgezählt.

Postkarte- Fotos von Anfang des 20. Jh. Links das Amtsgericht von 1902, dann Jugendarrestanstalt, etwas vorspringend die Zehntscheune, im Hintergrund die Kirche (Foto: Köster)

Auf einer Postkarte etwa Anfang des 20ten Jh. marschiert ein Schützenfesttrupp durch die (damalige) Schulstrasse. Links ist das „Storchenhaus“, daneben die Rückseite der Zehntscheune erkennbar. Die angrenzende Mauer fasste den Hof der Jugendarrestanstalt ein.
Die Zehntscheune muss weichen
Die Zehntscheune in Neustadt zeigt zwei verschiedene Giebel, rechts den ursprünglichen an der Schulstrasse. Als die Scheune vor einigen Jahrzehnten verkürzt wurde, entstand der Giebel an der Schloßstrasse. Seine Stilrichtung ist nur schwer einzuordnen. Leinezeitung 19./20. 4.1975
(Wann die Scheune verkürzt worden sein soll, ist heute nicht mehr zu ermitteln)
Spätestens seit 1975 ist eine heftige Kontroverse in Gang und der Bestand der Zehntscheune in Gefahr: soll sie doch einer neuen Erschliessungsstrasse weichen. Der Oberkonservator Boeck äussert Zweifel an der Denkmals-würdigkeit des Gebäudes. Dagegen werden Überlegungen für eine interessante Nutzung z. B. als Museum vorgeschlagen. Letzlich hat das starke Interesse an der Strasse, die dafür zugesagten Zuwendungen, hohe Kosten für den Erhalt der Scheune und deren fragwürdiger Innen- Zustand den Ausschlag gegeben.

Postkarte der Zehntscheune 1978. An diesem idyllischem Bild der möglichen Baudenkmal Immobilie in Neustadt am Rübenberge hat sich bis 1979 nichts geändert.
Als Sammelstelle für den „Zehnten“ hat die Scheune ohnehin schon lange nicht mehr gedient. Sie war Lager und Arbeits-stelle für die Jugendarrestanstalt, zeitweise Winterlager für Sport- und Segelboote, auch Fa. Hibbe hat einige Zeit dort ein Lager betrieben, sie wurde auch viele Jahre als Unter-kunft für Busse genutzt. Der „Gutachterausschuss für Grundstückswerte“ befasst sich 1976 u.a. mit der Scheune. Demnach ist für einen eventuellen Käufer dieser Immobilie kein Ertragswert zu erzielen. Er stellt fest: „Die Zehnt-scheune hat somit keinen wirtschaftlichen Wert“. Mit der Justizverwaltung als Eigentümer des Areals wurde daher ein Vertrag mit der Stadt Neustadt abgeschlossen. Im Tausch gegen das Zehntscheunengrundstück erhielt sie die spätere Parkplatzfläche westlich des Amtsgerichts.
Der Rat entschloss sich zu der jetzigen Linienführung der Strasse und die neue Herzog- Erich- Allee wurde als verkehrliche Umgehung und zur Entlastung des historischen Stadtkerns gebaut. Ein bedeutendes Baudenkmal musste abgerissen werden.
Die Leinezeitung meldet bereits im April 1979 den termingerechten Abriß. Lobend wird erwähnt, dass diese Arbeiten vor Eintreffen des ersten Storchs auf dem benachbarten Haus Poppe beendet werden konnten.

Kreuzung Herzog- Erich- Allee und Schlossstrasse. Links die Jugendarrestanstalt, im Hintergrund rechts das „Storchenhaus“ (die ehemalige Schule). Über das Areal der Zehntscheune rauscht der Verkehr. Dafür bietet sich mit den Fachwerkhäusern im Hintergrund ein ansprechendes Ambiente. (Foto Dyck Febr 2012)

Die Kreuzung Herzog- Erich- Allee und An der Liebfrauenkirche (frühere Schulstrasse). Nichts erinnert an die ehemalige Zehntscheune. (Foto Dyck Febr 2012)
Wiederaufbau der Neustädter Zehntscheune in Amedorf
Die Stadt Neustadt war wirtschaftlich nicht in der Lage, die Scheune selbst andernorts wieder aufzubauen. !979 erteilte die Bezirksregierung die Erlaubnis zum Abbau der Scheune und den Wiederaufbau auf dem Grundstück des Auto-kaufmanns Heinz Wiegmann in Amedorf. Mit Herrn Wiegmann vereinbarte die Stadt einen pauschalen Kaufpreis von 20.000 DM. Die Auflage war, den Abbau „mit geeig-netem Gerät, Handwerkszeug und Personal“ vorzunehmen. Die Scheune durfte in Amedorf nur als Schafscheune genutzt werden. Ein Amedorfer Landwirt war bereit, Herrn Wiegmann eine Weide-fläche für die Schafe zu verpachten.
Heinz Wiegmann aus Luttmersen besorgte also einen fach-gerechten Abbruch des Gebäudes. Wiegmann liess es mit Hilfe des Zimmermanns Jelde Hinrichs in Amedorf in wohl etwas reduzierten Ausmassen von 32 m x 12,40 m fachgerecht neu wieder errichten. Es erfuhr einige bedeutende Verbesserungen und Verschönerungen wie z. B. die Schleppgauben, sodass es mit dem ursprünglichen Original nicht mehr viel gemein hat.
Allerdings wurde es nicht als Schafscheune genutzt. Daraus ergab sich beträchtlicher Ärger mit der Stadtverwaltung. Der Baudezernent Sigurd Trommer beklagt: „ Die Bau-genehmigung erhielt Wiegmann nur, weil er einen land-wirtschaftlichen Betrieb mit Schafzucht aufbauen wollte. Doch leider züchtet er bis heute keine Schafe“. (LZ 13./14.2. 1982)

Die Diskussion um ein Museumsdorf oder Museumshof in Amedorf entfachte (Leine Zeitung vom 6.//. Februar 1982)
In diesen Streit wurde sogar der damalige niedersächsische Wissenschaftsminister Cassens eingebunden. Selbst einen sehr schönen Speicher, den Wiegmann auf dem Gelände der ehemaligen Ziegelei inzwischen (ohne Baugenehmigung) aufbauen liess, musste wieder abgebrochen werden.
Heute scheinen sich die Gemüter wieder beruhigt zu haben. Im Internet wird die Scheune für „Events“ angeboten. So ansehnlich präsentiert sich die Zehntscheune heutzutage.
HD 3/ 2012
Quellen:
- Regionsarchiv Hannover in Neustadt a. Rbge. (Siehe Angaben im Text)
- Leinezeitungen (Siehe Angaben im Text)
- Wikipedia
- Kirchenchronik Barby
- Dissertation Dr. Rühling
- Stadtverwaltung Neustadt a. Rbge(Siehe Angaben im Text)
Rüdiger on 14 Apr. 2012 at 09:35 #
Da werden Erinnerungen wach. Die alte Bebauung mit der Zehntscheune war schon in Vergessenheit geraten. So wird es vielen Neustädtern gehen.
Danke für die tolle Aufarbeitung.
Klein on 10 Mai 2012 at 22:32 #
Moin,
ein Plan, eine Anfahrtbeschreibung wäre nützlich
Karl-H. Schwarze on 30 Jan. 2015 at 09:46 #
Als Neustädter, seit fast 50 Jahren in Kanada, sehe ich gerne wie sich das Geschichtsbild der Stadt von früher auf heute verfeinert hat. Hinzu kommen viele Ergänzungen die mir nicht bekannt waren. Ich habe noch das Buch über die „Geschichte der Stadt Neustadt“ von 1966 in meiner Bibliothek. Namen wie „Kaemling“, einst mein strenger Lehrer in der Volksschule, oder Fritz Sackewitz, von dem ein Aquarell in meinem Wohnzimmer hänget, Namen wie Bauherr Rahlfs,der mit seinen Pferdefuhrwerken die Wunstorfer Str. entlang zockelte, Pupke, Hergt, Foto Köster, der mir vor meiner Auswanderung einen Merian-Sitch besorgte, Redakteur Dr.Redeker von der Apfelallee. All denen ist man oft genug auf der Straße begegnet, aber wird vielen heute kein Begriff mehr sein. So sehe ich mich in meinem nicht jünger werdenden Alter bereits als ein Teil der Geschichte der Stadt , die Geschichte meiner Jugendjahre, wo man jede Straße, jedes Haus und jeden Winkel kannte und womöglich unsicher machte.
Meine Hochachtung für die eingreifenden Hände, die in mühevoller Kleinarbeit bis in die letzten Tiefen der Vergangenheit gedrungen sind.
Grüße an Hartmut, Annegret und Christian. Es wird Zeit, daß ich mal wieder vorbei komme bevor es für uns alle zu spät ist.
Kathrin Kohler, geb. Gutt on 02 März 2024 at 04:36 #
Ich bin nach dem Krieg auf „der Ziegelei“ aufgewachsen. Nur meine Mutti, Omi und ich wohnten in den alten Gebäuden who früher die Arbeiter wohnten. Wir ueberlebten dort. Mutti suchte nach meinem Vater und fand ihn endlich in einem Massengrab in Ibbenbueren. Wir wohnten noch Jahre auf der Ziegelei in Amedorf und ich habe viele gute Erinnerungen and die Zeit dort. Wenn immer ich nach Hause komme dann besuche ich immer Amedorf.
Ich lebe nun seit Jahren in den USA und in Hawaii. Im vorigen Sommer habe ich meine zwei Enkeltöchter „nach Hause“ gebracht und natürlich auch „auf die Ziegelei“ in Amedorf mit Spaziergaengen in viele Eckchen. Ich bin so dankbar dass es sich immer noch nicht sehr verändert hat.
Solange ich die lange Reise schaffe werde ich wiederkommen. Hoffentlich im Herbst. Meine Schulfreunde planen ein Klassentreffen!!!
Ich weiss nicht wer diese Epistel bekommen wird, aber ich hoffe dass ich ein bisschen beitragen konnte.
Herzliche Grüsse und Aloha von Hawaii.
Kathrin Kohler-Gutt