Wer die Stadt in Richtung Westen zum Moor und Steinhuder Meer hin verlässt, kommt fast am Ende der Stadt an fabrikähnlichen Gebäuden und Brachen vorbei Er wird wahrscheinlich das Straßenschild für den kaum noch als solchen erkennbaren „Hüttenplatz“ übersehen. Eine Hütte ist – außer der Bezeichnung für eine behelfsmäßige Unterkunft – bekanntlich ein Werk, in welchem Eisenerz zu reinem Eisen verarbeitet wird. Außer dem Eisenerz benötigt man einen Brennstoff , im allgemeinen Kohle, mit dem das Eisen aus dem Erz heraus geschmolzen werden kann. In Neustadt gibt es jedoch weder Eisenerz noch nennenswerte Kohlengewinnung.

Der Hüttenplatz in Neustadt

Der Hüttenplatz in Neustadt

Wie kann da in Neustadt ein Eisenhüttenwerk entstanden sein?

Das ist eine spannende Geschichte, Hildegart Reese beschreibt seine Gründung als das kühnste und zugleich unvorsichtigste Unternehmen in der Geschichte der Stadt Neustadt.

Die Anfänge 1856 – 1869

Ausschlaggebend war die Verfügbarkeit unbeschränkter Mengen Torf im Neustädter Moor. Dieser sollte als Torfkoks für die Verhüttung und Verarbeitung von Roheisen alternativ anstelle von Kohle als billiger Brennstoff verwendet werden. 1856 wird daher durch die neu gegründete Neustädter Hüttengesellschaft (Ed. Nehse-jnr- und Ferd. Lüdecke) als Aktiengesellschaft mit einem Grundkapital von 1 Mill Thaler preußisch Courant ein Werk gegründet. Die benötigten Fabrikanlagen werden westlich der Stadt dicht an den Torfressourcen des Neustädter Moores errichtet. Die abgelegene Lage von jeder Infrastruktur bildete kein Hindernis, da ein Eisenbahnanschluss eingerichtet werden konnte, auf dem das zu verhüttende Eisenerz zum Werk gebracht werden konnte Ein Jahr später bereits sind 1100 Arbeiter für den Bau der Anlagen und der Gewinnung des Torfs eingestellt, 1858 / 59 können Hochöfen, Puddelwerk, Walzwerk und dergleichen in die Produktion gehen.

Vom Pech verfolgt, brannte die Hütte am 8. Mai 1859 zum Teil ab, die Firma ging in Konkurs, die Anlagen lagen mehrere Jahre brach.

Aera Strousberg 1869-1887

Dann trat der legendäre Eisenbahnkönig Dr. Bethel Henry Strousberg auf den Plan. Dieser ersteigerte im Jahre 1869 / 70 das Neustädter Hüttenwerk für 200.000. Taler. Es wurde Teil seines riesigen Imperiums, um hier Materialien für seinen sich rasch vergrößernden Eisenbahnbau zu erzeugen. Die Produktion der Hochöfen, der Gießereien, Walzwerke usw. lief auf Hochtouren. Er verzichtete auf die Verwendung von Torf und stieg auf Steinkohle als Energieträger um. Mit 27 Öfen und 23 Dampfmaschinen wird bis 1875 produziert, dann wird nach erheblichen Umbauten der Betrieb auf Torfvergasung umgestellt. Im gleichen Jahr wird Strousberg in St Petersburg verhaftet , damit stürzt das Werk in eine große Krise, 1879 nach einem Konkurs wird es zwangsversteigert.

Strousberg gibt nicht auf und kauft das Werk 1880 zurück. Doch schon 1883 hat die Anlage einen neuen Besitzer, aber die „Hannoverschen Torfwerke AG “ gehen umgehend in Konkurs. Strousberg stirbt 1884.

Der Grundstoff

Der Energieträger Torf hatte zur Wahl von Neustadt als Fabrikstandort geführt. Die Gewinnung in nächster Nähe war unproblematisch Die Verwendung in Form von Torfbriketts erwies sich jedoch letztlich als untauglich und unwirtschaftlich.

Um 1858/59 wurde man bei der Suche nach Steinkohle im Raum Suttorf fündig und senkte bereits 1859 einen Schacht ab, der beim ersten Konkurs der Hütte stillgelegt werden musste. Ab 1868 wurde die Förderung bei Suttorf durch Carl Eduard Nehse, dem Vater des o.a. ersten Gründers der Hütte, wieder aufgenommen und begleitete das Unternehmen von 1868 bis 1872 , bis schlechte Wasserverhältnisse dem Abbau zum Erliegen brachte. Man stieg daher zunächst auf fremd geförderte Steinkohle um.

Ab 1875 wurde Torf nach einem Verfahren von Siemens wirtschaftlich vergast und ersetzte die Steinkohle.

Auch für den Transport des Eisenerzes aus dem betriebseigenen Strousbergschem Eisensteinlager “Haverlaher Wiese“ bei Salzgitter wurde ein Gleis vom Hauptbahngleis der Strecke Hannover Bremen zum Werksgelände eingerichtet. Die Bahntrasse ist noch zu erkennen und dient heute als Geh-Rad und Wanderweg. Vom Hüttengelände bis ins Moor wurde eine Schmalspurbahn verlegt.

Es sollte schwefelfreies Roheisen, Bleche, Platten und Stabeisen erzeugt werden. 12 hohe Schornsteine, 27 Öfen und 23 Dampfmaschinen wurden errichtet, Der Briefkopf einer Neustädter Weinhandlung aus jener Zeit belegt, wie sehr dadurch das Stadtbild geprägt wurde .

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Historische Briefkopf der Neustädter Champagner Kelterei Kollmeyer / Dupres

Winkel berichtet – ohne Quellenangabe-, das Baumaterial sei aus Steinbrüchen auf dem Hüttengelände und an der Hannoverschen Strasse (sog. Hibbescher Teich) gewonnen worden. Auf dem Hüttenplatz selber verwendete man laut Barby die dort verwendete Tonerde und Sand zur Inbetriebnahme einer Feldziegelei.

Die Menschen

Barby stellt fest, dass die Arbeiten 1857 mit dem Bau von Arbeiterwohnungen in Fachwerkbauweise, einer Dampfkochanstalt und Speiseräumen am Hauptweg von der Stadt zum Hüttenplatz mit 600 Mann begonnen haben. Mit der Gründung des Werkes werden insgesamt 1100 Arbeiter eingestellt. Zum Vergleich: Neustadt hatte selbst weniger als 1500 Einwohner. Die Arbeiter und Facharbeiter wie Hochöfner, Puddler, Walzer, Schweisser, Hammerschmiede usw wanderten aus dem „Ausland“ d.h.dem Rheinland und Westfalen , auch aus Schlesien zu . Die Bevölkerungszahlen erleben jedoch ein ständiges auf und ab, von fast 2500 Einwohnern im Jahre 1858 sank infolge des Zusammenbruchs der Hütte die Bevölkerung auf 1887 Einwohner im Jahre 1861. Erst 1905 wurden annähernd wieder 2500 Bewohner gezählt.

Die Arbeit und der Umgang der hinzugezogenen großen Anzahl der Arbeiter machte – aus Sicht der Obrigkeit – Reglementierungen notwendig , 1858 wurde daher das „Regulativ für durch die Neustätter Hütten-Gesellschaft beschäftigten“ Arbeiter erlassen. Dieses unterschied sich wahrscheinlich nicht von solchen in anderen Gründungsbetrieben im Reich. Geregelt wurden grundsätzliche Voraussetzungen wie Arbeitserlaubnis, Einstellung und Entlassung, Arbeitszeit (11 Stunden ), Ordnungsstrafen usw. Der § 4 regelt aber auch: „Alle Arbeiter sind den für die verschiedenen Arbeitsclassen bestehenden Krankenhülfs- Unterstützungs- und Invaliden- Cassen bestehenden Statuten beizutreten verpflichtet“.

Bis dahin war Neustadt fast vollständig evangelisch- lutherisch geprägt. Viele der Zuwanderer waren jedoch katholisch. Für diese wurde eine Schule, aber auch ein Kirche (am Liebfrauenkamp) gegründet. Strousberg wurde auch von sozialen Grundsätzen geleitet , was sich an der Regulierung der Arbeitsverhältnissen beim Bau von Wohnsiedlungen und der Organisation der Krankenversorgung zeigte. Er verkürzte auch die Regelarbeitszeit von 12 auf 10 Stunden bei vollem Lohnausgleich. Die langen Wohngebäude am Hüttengleise für rund hundert Familien der Fabrikarbeiter wurden bis Mitte des 20. Jahrhunderts scherzhaft aber wohl nicht ohne Grund „Langer Jammer“ genannt.

1884 bis heute – Wechselnde Ereignisse

Nach 1884 ist die Glanzzeit eines Riesenunternehmens endgültig vorbei.

1888 verwerten Sittig und Joch aus der Konkursmasse Patente und Teile der Einrichtung und gründen die „Rohdachpappen- Fabrik“ . In kleinerem Rahmen wurde jetzt versucht, den Rohstoff Torf nicht nur für Torfstreu und Torfmull, sondern auch für die Herstellung von Kartonpappe zu verwenden. Diese war jedoch wiederum nicht verwendbar. Torf verlor seine Bedeutung, unter dem Betriebsleiter G. Kuhlmann stellte man die Produktion unter Verwendung von Lumpen und Altpapier auf Rohdachpappe um. Trotz mehrerer Besitzwechsel – zuletzt durch Fabrikdirektor Robert Kuhlmann 1935 – Stillständen, Produktionspausen und Werksbränden bestand das Werk bis immerhin 1975. 1945 bis 1949 von den Engländern besetzt, wurde das Werksgelände freigegeben und die Produktion von Rohdachpappe konnte bis zur vollständigen Schließung der Werksanlagen aufgenommen werden.

Heute befindet sich dort eine Wohnanlage für betreutes Wohnen.

1916 wurden in Neustadt zwar schon über 3700 Bewohner gezählt, dazu gehörten aber außer einer Maschinengewehrkompanie auch 600 Kriegsgefangene, die auf dem Hüttengelände untergebracht waren.

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Das Schwert

Klages berichtet in seiner handgeschriebenen Chronik:

In der Zeit, als noch die Verhüttung von Eisenerzen stattfand, soll in dem Werk das sieben Meter lange Schwert des Hermannsdenkmals auf dem Teutoburger Wald gegossen sein.“ Diese Feststellung machte er im Jahre 1950 bei einem Besucher des Denkmals. Er fand in dem Schwert den Vermerk : „Gegossen in Neustadt a.R. Seine weiteren Nachforschungen führten ihn zu dem Ergebnis, dass unter den vielen Neustadts nur Neustadt a. Rbge., also unser Neustadt In Frage kommt

Strousberg, Bethel Henry, 1823-1884

Strousberg war gewiss ein Unternehmer mit Visionen. Er trat hauptsächlich in grossem Umfange mit riesigen Krediten ohne Eigenkapital als Generalunternehmer im privatem Eisenbahnbau auf, insbesondere für Preussen, Ungarn, Russland, Rumänien. Er gründete zudem gewaltige Industrieanlagen, vornehmlich im Erz-, Kohlebergbau und der Eisen- und Stahlerzeugung sowie Hochöfen, Giessereien ,Walzwerke zur Herstellung des Produkts „Eisenbahn“ in der gesamten Bandbreite. 1868 erwarb er das Werk von Egestorff, der späteren Hanomag in Linden vor Hannover für 700.000 Taler, dann 1869 die schon bestehenden Teile der Neustädter Hütte für 200.000 Taler. Während in Neustadt ca 1.100 Arbeiter beschäftigt waren, wurden in Linden 2.000 Maschinenarbeiter gerufen. Wie in Neustadt galt ihnen seine Fürsorge als Fabrikherr und seine Wohltätigkeit u.a. mit dem Bau von 144 Häusern in Fabriknähe. Er galt als weitsichtig sozial eingestellt, zahlte vergleichsweise gute Löhne und sorgte für zusätzliche soziale Leistungen.

Sein bedeutender Ruf in der Technik-Geschichte der Lokomotivproduktion begründete sich auch in der Einführung einheitlicher Aufbauten trotz verschiedener Lokomotivgattungen, normierten Armaturen u.a. 1870 jedoch platzte das Geschäft mit Rumänien, einer Konzession über 900 Km Bahnstrecke, sodass das Lindener Werk 1871 verkauft werden musste.

Strousberg hat Höhen und Tiefen durchlebt, einschließlich einer Verhaftung in St Petersburg, wirtschaftlicher Probleme und Zwangsverkäufen seiner vielfältigen Anlagen. Er war sehr umstritten. Aber er ist der Nachwelt als Unternehmer, dessen Leistungen nicht zu überschätzen waren und als der „Eisenbahnkönig“ in Erinnerung geblieben. Neustadts Wirtschaftsgeschichte hat ihm zu verdanken. dass es als nicht unbedeutender, hoffnungsvoller Teil eines internationalen Wirtschaftsimperiums erstmalig Ruf und Bedeutung über Grenzen hinaus erlangte. Darum sei er hier besonders gewürdigt. [HD, März 2008]

Nachtrag:

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Literatur:

  • Hildegart Reese , Dissertation 1947
  • Klages, maschinengeschriebene Chronik 1950
  • Winkel, Chronik der Stadt Neustadt a. Rbge 1966
  • Katalog der Verkehrsausstellung 750 Jahre Verkehr in & um Hanoover 1991
  • Gründerjahre in Neustadt, Begleitmaterial zur Ausstellung der ZEW 1996
  • Dieter Barby, Chronik der Kirchengemeinde Neustadt am Rübenberge 2003
  • Günter Gebhard, veröffentlichte Stelle unbekannt, Heimatbund Niedersachsen

 

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