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Australien-Aktivitäten standen im siebzehnten- und frühen achtzehnten Jahrhundert im Mittelpunkt des Interesses an Reiseerzählungen. Der Kontinent war noch nicht erforscht, und es rankten sich zahlreiche Mythen um seine Größe und seine Bewohner. Daher regten Informationen über diese Regionen auch die literarischen Phantasien besonders an; Australien war ein perfektes Setting für eine Erzählung. Die Ungewissheit über die Realität in Australien steigerte die Glaubwürdigkeit einer Erzählung, da Behauptungen aufgrund mangelnden Wissens nicht widerlegt werden konnten. Dieses Setting fand daher insbesondere auch in gesellschaftskritischen Texten Verwendung, wie zum Beispiel bei Smeeks und Veiras. Hier beschreiben die Erzähler jeweils einen utopischen Staat in Australien. Ihre Texte werden daher allgemein als Utopien bezeichnet; die Nähe zur Reiseerzählung und Robinsonade ist aber sehr groß. Eine klare Trennlinie zwischen Utopie, Robinsonade und fiktiver Reiseerzählung kann nicht gezogen werden. Als Wegbereiter Defoes sind beide Texte aus mehreren Gründen von Bedeutung, wie im Folgenden deutlich gemacht wird. So kann unter anderem an beiden Texten ein Wandel der traditionellen Utopie abgelesen werden, welche der Entstehung des Robinson-Motivs und seinem Erfolg den Weg bereitete.[1]

Im Vergleich zu anderen Utopien jener Zeit haben Veiras´ und Smeeks´ Texte trotz ihres utopischen Inhaltes eine große Nähe zur faktischen Reiseerzählung. Ihre utopische Geschichte ist in einen realistischen Erzählrahmen verpackt, und die Erzähler betonen den „Wahrheitsgehalt“ der Geschichte. Utopische Texte, die vom Leser sofort als Fiktion zu erkennen waren, verloren an Bedeutung. Die Vortäuschung von Authentizität durch die geschickte Anwendung der „Technik der Illusion“ und ein Bezug zur Realität durch eine möglicherweise reale Umgebung in einem noch unbekannten Teil der Welt wurde zu einem relevanten Faktor für die Textgestaltung. Politisch motivierte Utopien und faktische Reiseerzählungen vermischten sich. Dieses ist am Text von Veiras festzustellen; auf die realistische Darstellung des geographischen Settings und der Isolationssituation einer Schiffsmannschaft wird hier nämlich ebensoviel Wert gelegt, wie auf die Darstellung eines utopischen Staates. Die Erzählung ist ganz im oben dargestellten Stil einer Reiseerzählung verfasst; die Darstellung des utopischen Staates ist in diese Rahmenhandlung eingebettet (siehe unten).

Wachsendes empirisches Wissen über bisher unbekannte geographische Regionen hatte zur Folge, dass die Utopie allgemein an Bedeutung verlor. Es gab immer weniger weiße Flecken auf der Landkarte, die die Vorraussetzung für den fiktiven Schauplatz einer Utopie erfüllten (Fausett, Strange Sources, 22). Schwerpunktmäßig rückte daher das Motiv des Aufenthalts einer Person oder Gruppe in der Fremde, welches auch in der Utopie zu finden ist, in den Vordergrund. In Smeeks Text zeichnet sich dieser Umschwung von der Utopie zur Robinsonade eindeutig ab: “[Smeeks text] is a link in a chain of works leading from the projective utopianism that flourished in the political turmoil of seveteenth-century England to a more descriptive and picaresque style mainly concerned with the adventures of an individual hero like Robinson Crusoe“ (Fausett, Hendrik Smeeks´s Krinke Kesmes: A Crossing of Ideas in 1708, 65). Hier beschreibt der Erzähler einen utopischen Staat, in welchem er isoliert von seinen Landsleuten lebt. Erstmals kommt in diesem Text auch das Robinson-Motiv in gleicher Form wie bei Defoe zur Geltung. So ist in der Erzählung die Episode des Schiffbrüchigen El-Ho zu finden, der allein auf einer Insel in Isolation lebt. Realistisch wird hier der Überlebenskampf des El-Ho geschildert. Das utopische Element fehlt völlig. Der Schwerpunkt dieses Textes hat sich auf die realistische Schilderung von Ereignissen verlagert. Sowohl bei Defoe als auch in der Nach- Defoeschen Robinsonade fehlt das utopische Element komplett; das Robinson-Motiv in seiner realistischen Ausarbeitung steht im Mittelpunkt der Erzählung. Der Wandel der Utopie bereitete Robinson Crusoe und der Robinsonade den Weg.[2]
7. Defoes Wegbereiter

[1] Utopien wurden im siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhundert anders rezipiert als heute. Die dargestellten utopischen Staaten dienten nicht als Idealbild einer besseren Zukunft, welche in die Realität übertragen werden sollte, sondern als Mittel der Kritikäußerung an bestehenden sozialen Verhältnissen. Sie hatten satirischen Charakter. Autoren schützten sich vor Kritik an ihren Texten, indem sie sich als Herausgeber einer wahren Erzählung bezeichneten; so konnten sie sich vom satirischen Inhalt distanzieren (Stockinger, „Johann Gottwerth Müllers Übersetzung der Histoire des Sevarambes. Zur Rezeption der utopischen Erzählung im späten 18. Jahrhundert“, 184-187). Diese gesellschaftskritische Utopie verlor aber nach dem vollendeten Wandel des Weltbildes und einer politischen Neuordnung in Europa ihre Bedeutung. Nach und nach verschwindet das utopische Element aus der fiktiven Reiseerzählung zugunsten eines realistischen Individualismus. Dieser Umstand, der unten detailliert dargestellt wird, bereitete der Robinsonade den Weg.

[2] Damit einhergehend verändert sich auch der Erzählstil der Texte zugunsten einer realistischen Erzählweise. Hier ist der Beginn des Realismus im fiktiven Erzähltext zu markieren, den wir auch bei Defoe finden. Während in den utopischen Erzählungen die Gemeinschaft und deren Funktionsweise im Mittelpunkt steht, rückt in der Robinsonade das Individuum mit seinen rationalen Fähigkeiten in den Mittelpunkt der Erzählung (Fausett, Strange Sources, 195). Dieser Wechsel geht mit dem Verlust des utopischen Gehaltes von fiktiven Erzählungen einher und lässt sich an den Texten von Veiras und Smeeks belegen (siehe unten).

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