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Nachdem nun sowohl die vielfältigen Beziehungen von faktischen zu fiktiven Erzählungen als auch das Robinson-Motiv in seiner Verbreitung und Dynamik dargestellt wurden, werden nun die Texte von Henry Neville, Denis Veiras und Hendrik Smeeks in ihrer Rolle als Wegbereiter Defoes untersucht. Diese Texte sind, wie deutlich werden soll, als Vorläufer der Robinsonade (und des Romans als literarischer Gattung) zu sehen. Sie markieren einen Prozess des geistigen Wandels der Gesellschaft, der sich bis Defoes Crusoe fortsetzt. Defoes Text markiert das Ende der literarischen Tradition der fiktiven Reiseerzählung und, parallel dazu, das Ende eines nahezu vollzogenen geistigen Wandels.

Dieses lässt sich an vielen Gemeinsamkeiten der drei im Folgenden analysierten Ich-Erzählungen mit Defoes Text deutlich machen. Neben der allen Texten gemeinsamen Rahmenhandlung der Schiffbruch bedingten Inselsituation, prägt auch der realistische Erzählstil diese drei Erzählungen. Dem Leser wird durch Verwendung der „Technik der Illusion“ vorgetäuscht, einen Tatsachenbericht zu lesen. Des Weiteren kann an der Untersuchung dieser Texte festgestellt werden, dass sich der Schwerpunkt der Erzählungen von der Beschreibung von Gemeinschaften und deren Funktion und Philosophie nach und nach verschiebt. Schwerpunktmäßig rückt das Individuum in den Mittelpunkt der Erzählung. Der Individualismus in Defoes Erzählung spiegelt gesellschaftliche und philosophische Veränderungen jener Zeit wider, die auch schon in den Texten Nevilles, Veiras und Smeeks zu erkennen sind. Der Wandel des Weltbildes mit dem Beginn des Zeitalters der Aufklärung und die Etablierung dieses neuen geistigen Systems lassen sich in den textuellen Beziehungen der hier untersuchten Texte wieder finden, was im folgenden Kapitel deutlich wird.

Das Australien-Motiv, welches den drei hier analysierten Erzählungen gemein ist, spielt eine wichtige Rolle für die Wegbereiter Defoes, da es verschiedene Rahmenbedingung schafft, welche es ermöglichen, gesellschaftskritisch- philosophische Ideen in Form einer wahr erscheinenden Reiseerzählung zu übermitteln: “The wild coast of Western Australia became the birthplace of a new way of expressing the philosophical and social ideas in Europe in the Age of Enlightenment“ (Fausett, Tall Ships, 64). An diesen Texten wird deutlich, dass sich das Textverständnis von Lesern und Autoren ändert. Dem Textverständnis, das aus Defoes Erzählung spricht, wird in den Erzählungen Nevilles, Veiras und Smeeks der Weg bereitet.

Darüber hinaus spiegeln sich in diesen Texten viele Erzählmotive aus faktischen Reiseerzählungen wieder, die auch Defoe benutzt. Hier wird deutlich, dass die immer wiederkehrenden Motive (Schiffbruch, Pfahl als Kalender, Ziegenfell als Kleidung, Fußspuren im Sand, Kulturbegegnung) der fiktiven Reiseerzählung einer bestimmten literarischen Tradition unterliegen.

7.1. Isle of Pines (1668) von Henry Neville

Henry Nevilles neunseitige Erzählung Isle of Pines wurde erstmals 1668 anonym in London veröffentlicht.[1] Der Text wurde zu einem Verkaufsschlager, da er in Form eines Nachrichtenblattes veröffentlicht wurde und Informationen über reale Ereignisse versprach (Fausett, New World, 162).

Der Ich-Erzähler George Pines schildert, wie er als Buchhalter auf einer Handelsreise mit der „India Merchant“ auf dem Weg nach Ost-Indien Schiffbruch erleidet. Zusammen mit zwei Dienerinnen, einer schwarzen Sklavin und der Tochter seines Arbeitgebers, kann er sich auf das abgebrochene Bugspriet des Schiffes retten. Die Gruppe treibt an eine unbekannte Küste, wo sie aufgrund eines Überangebotes an Nahrungsmitteln sorglos lebt. Im Folgenden erzählt Pines, wie er nach und nach zu allen Frauen ein intimes Verhältnis aufbaut und mit ihnen insgesamt siebenundvierzig Kinder zeugt. Diese wiederum werden nach einem bestimmten Schema von ihm miteinander verheiratet, so dass nach vierzig Jahren auf der Insel eine Gesellschaft von fünfhundertfünfundvierzig seiner Kinder, Enkel und Urenkel lebt. Pines organisiert die Form des Zusammenlebens; er ordnet seine Nachkommen in vier verschiedene Stämme ein, erlässt Gesetze und hält nun auch christliche Gottesdienste ab. Nach sechzig Jahren in Isolation ergibt eine Volkszählung, dass die Gesellschaft auf eintausendsiebenhundertneunundachtzig seiner Nachfahren angewachsen ist. Am Ende der Erzählung sagt Pines, dass er nicht mehr erwarte, noch lange zu leben und er darum diesen Text verfassen würde, um die Entstehungsgeschichte dieser Gesellschaft für die Nachwelt zu erhalten.

Der Text war ein Verkaufserfolg, infolgedessen das Motiv des Schiffbruches und der Isolation zu einer besonderen Popularität gelangt, aus der heraus es auch als literarisches Motiv häufiger Verwendung fand (Fausett, New World, 148). Hauptgrund für den Erfolg dieser Erzählung war, dass man auf Neuigkeiten über Ereignisse in den noch unbekannten Regionen der Welt in der Nähe Australiens hoffte (New World, 84). Allgemein waren Reiseberichte – besonders über Schiffbrüche und die Isolationssituation auf einer Insel – eine sehr weit verbreitete Lektüre (siehe oben). Gerüchte über die Ereignisse des „Batavia“- Schiffbruches erhöhten die Neugierde auf Nachrichten aus der Region des Südkontinents. Hier liegt auch eine mögliche faktische Quelle der Erzählung verborgen; so sind oral überlieferte Informationen über die Situation der während des Batavia- Unglückes versklavten Frauen die wahrscheinliche Quelle für das Motiv der Geschlechterbeziehung und Grund für die Popularität des erotischen Inhalts der Erzählung gewesen (Fausett, Strange Sources, 162). Sowohl die einfache Sprache, als auch inhaltliche Details der Erzählung lassen darauf schließen, dass die orale Erzählung eines Seemannes ausschlaggebende Quelle für Nevilles Text gewesen ist (Fausett, New World, 84). Eine holländische Ausgabe der Erzählung zeigt eine Abbildung eines Küstenstreifens, der die Insel der Pines darstellen soll, tatsächlich aber dem Küstenverlauf eines Teils der australischen Küste sehr ähnlich ist (Fausett, Strange Sources, 76). Auch dieser Umstand könnte für die historischen Australien-Aktivitäten als Quelle der Erzählung sprechen.

In einer 1646 in Holland veröffentlichten faktischen Erzählung des Seglers Bontekoen wird von einem Schiffbruch im gleichen Gewässer berichtet, von denen auch in Nevilles Geschichte erzählt wird. Hier rettet sich der Erzähler auf einem Teil des Mastes an Land. Dieses Motiv finden wir auch bei Neville wieder, wo sich die Schiffbrüchigen auf dem Bugspriet an Land retten. Hier ist eine andere faktische Quelle der Erzählung verborgen (Fausett, Strange Sources, 86). Auch Hippe erkennt in der Erzählung eine Fiktionalisierung historischer Ereignisse. So könnten die geographische Situation und die beschriebenen Ereignisse auf Geschehnisse vor Madagaskar zurückzuführen sein. Er räumt aber ein, dass das unbekannte „Südland“ eine bessere Grundlage für eine fiktive Reiseerzählung bietet (74/79). Fakt und Fiktion vermischen sich auch in dieser Erzählung entsprechend der oben beschriebenen Dynamik.

Trotz möglicher historischer Quellen Nevilles steht aber die Gesellschaftskritik in der Erzählung im Vordergrund. So ist der Text unter anderem als eine Satire über die biblische Vorstellung der Entstehung der Menschen zu verstehen: Ebenso wie Adam als erster Mensch gemeinsamer Vorfahre aller Menschen ist, zeugt Pines in der Isolation vom Rest der Welt eine neue Gesellschaft. Der christliche Glaube, dass alle Menschen von Adam abstammen, wird hier idealtypisch nacherzählt, indem Pines mit vier Frauen gleichzeitig Kinder zeugt und deren Vermehrung untereinander ebenfalls organisiert (Reichert, 57). Nach sechzig Jahren in Isolation hat er somit mehr als eintausendsiebenhundert Nachfahren; diese überzogene Zahl lässt an der Faktizität der Erzählung zweifeln und macht den satirischen Charakter des Textes deutlich. Die biblische Idee der Abstammung aller Menschen von Adam wird lächerlich gemacht. Ebenso wird die Doppeldeutigkeit von religiöser Moral, Sitte und Gesetz am Beispiel des moralischen Wandels der Figur Pines deutlich gemacht. Zu Beginn seines Aufenthaltes auf der Insel vergnügt sich Pines nach eigenem Ermessen und ohne moralische Bedenken mit den Frauen. Er vermehrt sich frei nach dem religiösen Gebot der Fruchtbarkeit; sittliche Grenzen gibt es zu diesem Zeitpunkt nicht. Dieser Zustand gleicht der biblischen Darstellung des Paradieses. Nachdem sich auch seine direkten Nachfahren ebenso untereinander vermehrt haben, unterbindet Pines zu einem von ihm willkürlich bestimmten Punkt diese Art der Fortpflanzung, teilt die Gruppe seiner Nachkommen in vier Stämme ein, etabliert ein Inzesttabu, erlässt Gesetze und findet eine bestimmte Regierungsform.

Reichert macht deutlich, dass die Erzählung hier auf die Diskrepanz zwischen der biblischen Moral der Geschichte Adams und Evas und der historischen Moral (kulturell bedingte Sitten und Gesetze wie zum Beispiel dem Inzesttabu) aufmerksam macht (59). Neville hat die biblische Vorstellung der Vermehrung der Menschheit am Fallbeispiel der Isle of Pines idealtypisch dargestellt und persifliert sie, indem er sie mit Sitte, Gesetz und historisch gewachsener Moral konfrontiert.

In der Erzählung erscheint die Figur des Pines als dominanter Mann, der aufgrund seiner Geschlechterzugehörigkeit den in der Erzählung auftauchenden Frauen überlegen ist; diese werden als unterlegene Objekte seiner Lust dargestellt:[2] “Idleness and fullness of everything begot in me a desire for enjoying the women“(Neville, 232). Selbst soziale Barrieren, wie zum Beispiel Standeszugehörigkeit, verändern nichts an seiner Überlegenheit. So ordnet sich die Tochter seines Arbeitgebers ebenso unter wie die anderen Frauen: “Beginning now to grow more familiar, I had persuaded the two maids to let me lie with them, which I did first in private; but after, custom taking away shame, there being none but us, we did it more openly, as our lust gave us liberty. My masters daughter was also content to do as we did“ (Nevile,232). Harold Weber macht deutlich, dass Pines in dieser Erzählung als Idealfigur eines männlichen Patriarchen dargestellt wird (202). Sowohl die Frauen als auch seine Nachkommen ordnen sich ihm freiwillig und bedingungslos unter. Das Recht auf Vaterschaft und Autorität über Frauen und Nachkommen erscheint hier als ein in der Natur des Menschen verankertes Gesetz zu sein (Weber, 202). Der männliche Ich-Erzähler stellt sich deutlich als Patriarch der Insel dar. Von anderen Figuren wird nur beiläufig erzählt; stets erscheinen sie aber als kontrollierte und passive Objekte seines Willens: “I made […] [my eldest son] king and governour of all the rest. […] I summoned them all to come to me, that I might number them, which I did“ (Neville, 235).

Pines erscheint als Adamsfigur und absoluter Herrscher. Weber zeigt, dass die Herrschaft des Mannes in Nevilles Text auf seiner Geschlechterzugehörigkeit basiert, die ihm das Recht zu herrschen „natürlicherweise“ garantiert, ohne dass dafür Kampf oder Auseinandersetzungen nötig sind. Dieses Ideal männlichen Phantasiedenkens wird hier extrem übertrieben dargestellt und persifliert. Auf diese Weise werden bestimmte zeitgenössische Vorstellungen bezüglich der Geschlechterrolle in Frage gestellt.

Reichert hält es für den satirischen Charakter des Text darüber hinaus für wesentlich, dass der Erzähler Pines aus der englischen Unterschicht stammt; somit wird auch die zeitgenössische Hoffnung der englischen Unterschicht auf Macht und Einfluss verspottet (60). Weber sieht in der Darstellung Pines als absoluten Monarchen hingegen eine Satire auf die Herrschaft des englischen Königs (202).

Unabhängig davon spiegelt diese satirische Robinsonade tagespolitische und soziale Fragen der Zeit wider. So wurde der Text verfasst, als Sexskandale von Charles II zu einer öffentlichen Diskussion über soziale Hierarchie, Geschlechterrolle und königliche Macht führten. Charles II wurde ab 1666 aufgrund verschiedener Affären zur Zielscheibe satirischer Gedichte. Seine Macht wurde in Frage gestellt, da man ihn wegen seiner hohen Promiskuität für einen labilen Herrscher hielt, der sich nicht unter Kontrolle hat. Infolgedessen wurde das natürliche Verhältnis zwischen den Geschlechtern zum Gegenstand der Diskussion (Harold Weber, 193-196). Der Text spiegelt die zeitgenössische Diskussion um männliche und absolutistische Macht, Sexualität und Geschlechterrollen wider und nimmt in satirischer Form direkt darauf Bezug.

Dieses macht auch der Name „Pines“ deutlich; es ist ein Anagramm von „Penis“ (Fausett, Mighty Kingdom, XVIII).

Darüber hinaus lässt sich an dem satirischen Charakter des Textes der Umbruch vom mittelalterlichen Weltbild zur Moderne verfolgen. Der Text ist, wie oben gezeigt wurde, eine Satire auf einen biblischen Mythos. Er stellt alte Werte in Frage und entfacht eine breite Diskussion über die Rolle der Kirche und ihr Weltbild. Somit bereitet der Text dem neuen Weltbild und der Aufklärung den Weg:

Die aufklärerisch- rationalistische Bibelkritik, das Wörtlichnehmen ihrer Mythen, z. B. der Utopie vom Paradies, geht – wie wir heute wissen – am Kern der Sache vorbei, war aber zu jener Zeit eine notwendige Etappe der geistesgeschichtlichen Entwicklung, da die Gegenseite, die scholastische Orthodoxie, diese Mythen in ihrem Wesen ebenso verkannte und mit der gleichen rationalistischen Sophistik verteidigte (Reicher, 61).

Der satirische Gehalt der Erzählung ist in eine realistische Rahmenhandlung eingebunden, welche einen Bezug zur Realität vortäuschen soll; der Text soll den Anschein erwecken, von realen Ereignissen zu berichten. Er ist dem Stil der faktischen Reiseerzählung nachempfunden. Dementsprechend leitet der Erzähler die Geschichte durch die genaue Darstellung seiner Reiseroute und seiner Motivation für die Reise ein. Auch nennt er das Datum der Abreise, den Namen seines Schiffes und dessen technische Details und die Wetterbedingungen während der Reise:

On Monday the Third of April […] we embarked ourselves in the good ship called ´Indian Merchant´, of about fourhundred and fifty tons burthen; and having a good wind, we on the fourteenth of May had sight of the ´Canaries´, and not long after of the ´Isle of Cape Vert´ or ´Verd´, where taking in such things as necessary for the voyage, […] we [were] steering our course south, and a point east, about the first of August came in sight of the ´Island of St. Hellen´, where we took fresh Water (228).

Entsprechend der Tradition der faktischen Reiseerzählung werden Ereignisse völlig emotionslos in chronologischer Folge wiedergegeben. Selbst von dramatischen oder bewegenden Geschehnissen wie Schiffbruch, Todesfälle oder Geburten wird in einer sachlichen und objektiven Sprache erzählt (229). Landschaftsbeschreibungen erhöhen die Glaubwürdigkeit des Textes; sie vermitteln den Eindruck, dass der beschrieben Ort real vorhanden sei, da sie faktischen Reisebeschreibungen sehr ähnlich sind: „The land seemed high and rocky, and the sea continued still very tempestous“ (228). Stets sieht der Erzähler sein Schicksal in der Hand Gottes liegen: “But god was pleased to spear our lives“ ( 229); “I also placed our hammocks for lodging, purposing if it pleased god to send any ship that way, we might be transported home“ (231).

Der Stil des Textes entspricht dem der faktischen Reisezählung. Dadurch erhält er den Anschein, auf faktischen Ereignissen zu basieren. Dieser Eindruck soll verstärkt werden, indem dem Text eine „Vergangenheit“ gegeben wird, der sein Erscheinen in England erklärt: “I gave this narration, written with my own hand, to my eldest son, who now lived with me, commanding him to keep it, and if strangers should come thither by chance, to let them see it, and take a copy of it if they would, that our name be not lost from off the earth“ (235). Während sich die Erzählfigur Pines als Autor des Textes ausgibt, blieb der tatsächliche Autor bei der Veröffentlichung des Textes anonym; dadurch steigt die Glaubhaftigkeit.

Trotz der stilistischen Ähnlichkeit zur faktischen Reiseerzählung, fehlt dem Text Nevilles die wissenschaftliche Präzision in der Beobachtung. Der Schilderung der sozialen Ereignisse und der entstehenden Gesellschaft wird mehr Bedeutung beigemessen als der empirischen Darstellung von Daten. Hier wird deutlich, dass der Text nicht in erster Linie verfasst wurde, um als authentische Reiseerzählung gelesen zu werden. Vielmehr steht seine satirische Aussage im Mittelpunkt. Aus diesem Grund erlangte er vermutlich auch eine so große Popularität; er sprach eine größere Leserschaft an, da auf eine vergleichsweise uninteressante Auflistung empirischer Daten zugunsten einer spektakulären und zeitkritischen Handlung verzichtet wurde, ohne seine Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Der Ort der Handlung ist nicht genau zu bestimmen. Angaben über die Reiseroute lassen aber die Vermutung zu, dass die Erzählung in einem damals noch unbekannten Teil der Welt stattgefunden haben könnte (siehe oben). Somit war die theoretische Möglichkeit geschaffen, dass der Bericht auf Fakten beruht. Hinter dieser Fassade des faktischen Reiseberichtes verbirgt sich der satirische Gehalt der Erzählung. Das Vortäuschen von Echtheit war eine Möglichkeit, sich vom gesellschaftskritischen Inhalt der Erzählung distanzieren zu können. Der geographische Rahmen der Geschichte in einem empirisch unbekannten Teil der Welt war dabei einerseits eine wichtiges Mittel für die Glaubwürdigkeit und machte die Erzählung andererseits auch unüberprüfbar. Des Weiteren war somit der Anspruch des Rezipienten auf die „Echtheit“ erfüllt. Der Leser wollte getäuscht werden. Reiseerzählungen, die als fiktiv zu erkennen waren, ließen sich nämlich noch nicht verkaufen. Allerdings erhöhte das Rätselraten des zeitgenössischen Lesers um die tatsächliche Echtheit der Erzählung gleichzeitig ihre Popularität (Fausett, Mighty Kingdom, XXXIX).

Der Text Isle of Pines für die nachfolgenden Robinsonaden von ganz besonderer Bedeutung. In dieser Erzählung ist die Schilderung der Situation der Isolation ein Kunstgriff, der dazu dient, einen ganz bestimmten Mikrokosmos schildern zu können: die Rolle eines Mannes allein mit vier Frauen. Das Motiv der Isolation per se schafft somit die Rahmenbedingung für die Ausarbeitung einer bestimmten Idee.[3] Hier ist erstmals ein bestimmtes gestalterisches Grundmuster zu erkennen, welches die Funktion der später entstehenden Robinsonade prägt und sie von faktischen Reiseerzählungen einerseits und Romanen andererseits unterscheidet. Die intentionale Gestaltung dieser Reiseerzählung weist der Entstehung der fiktiven Reiseliteratur, zu welcher Crusoe zählt, den Weg. Darüber hinaus macht die Analyse der Erzähltechnik dieses Textes deutlich, dass die auch bei Defoe zu findende Technik der Illusion eine lange Tradition hat, die unter anderem durch Isle of Pines mitgestaltet wurde; Nevilles Bericht war nämlich ein Verkaufschlager, der dem Schiffbruch- und Insel-Motiv zu einer besonderen Popularität verhalf und somit zur Tradition dieser Motive und der damit zu diesem Zeitpunkt noch untrennbar verbundenen Erzähltechnik maßgeblich beitrug (Fausett, New World, 148). Dieser Text markiert somit den Beginn der Robinsonade als eigene Gattung und zeigt die Tradition, in der Crusoe zu sehen ist, deutlich auf.

7.2. Historie der Sevarambes (1675-79) von Denis Veiras

Der erste Teil des Textes Historie der Sevarambes von Denis Veiras erschien erstmals 1675 in England unter dem Titel History of the Sevarites. Weitere Teile wurden in den darauf folgenden Jahren in Frankreich veröffentlicht und kurz darauf ins Englische übersetzt (Fausett, New World, 113). Die Identität des Autors blieb bis ins neunzehnte Jahrhundert ungewiss.[4] Dieser Text ist als Wegbereiter von Defoe aus verschieden Gründen relevant. Hier ist schon ein realistischer Erzählstil zu finden, der sich aus bestimmten textuellen Bezügen zur faktischen Reiseerzählung gebildet hat und sich später in Defoes Realismus widerspiegelt. Darüber hinaus ist das Isolationsmotiv perfekt in einen unüberprüfbaren, pseudo-historischen Erzählrahmen eingebunden. Ebenso wie bei Defoe, dient das Motiv der idealtypischen Darstellung einer bestimmten Idee. Dieser Text gibt geistige und kritische Tendenzen der Zeit wieder; dem aufklärerischen Gedanken, der den Text von Defoes prägt, wird hier der Weg bereitet.

Zum Inhalt: In der „Vorrede an den Leser“ (1-9) erklärt ein unbenannter Ich-Erzähler, der als „Herausgeber“ erscheint, wie er in den Besitz des Manuskriptes der anschließend folgenden Ich-Erzählung des holländischen Kapitäns Siden (ein Anagramm von Denis) gelangt sei. In dieser kurzen Rahmenerzählung erklärt er, dass er das Manuskript zu diesem Text vom Schiffsarzt eines holländischen Seglers erhalten habe. Dieser wiederum erhielt die Schrift aus den Händen des angeblichen Autors Siden, welcher in einem Gefecht zwischen englischen und holländischen Schiffen im Ärmelkanal auf der Rückreise von Smyrna (Izmir) nach Holland verwundet wurde und daraufhin seinen Verletzungen erlag.

In der darauf folgenden Ich-Erzählung schildert nun Siden, nachdem er kurz einige Angaben zu seiner Person macht[5], wie er als Kapitän des Schiffes „Guldene Drach“ im April 1655 im Auftrag der VOC von Texel Richtung Batavia segelt, Schiffbruch erleidet und mit seiner Mannschaft an der unbekannten Küste Australiens anlandet. In einer Schaluppe werden acht Mann nach Batavia entsandt, um Hilfe zu holen. Siden schildert die Errichtung eines Lagers und die Erkundung der Umgebung. Als Gouverneur einer nun gebildeten Regierung teilt er die mitgereisten Frauen unter seiner Besatzung auf und schickt Kundschafter in die Umgebung.

Man trifft auf freundliche und gebildete Bewohner, die unter anderem englisch und holländisch sprechen und in einer Stadt namens Sporonde leben, die Siden aufgrund ihrer Schönheit sehr imponiert. Man siedelt hierher über und wird mit den wichtigsten Elementen der Philosophie des Volkes bekannt gemacht. Anschließend reist die Gruppe durch das halbe Reich, durchquert in einem künstlich erweiterten Tunnel ein Bergmassiv und gelangt in die Hauptstadt Sevarinde, in der nur die schönen und körperlich unversehrten Menschen des Volkes leben dürfen. Hier wird die Schiffsmannschaft nach einer medizinischen Untersuchung in die Bevölkerung integriert und beteiligt sich an der gemeinschaftlich zu verrichtenden Arbeit. Die Sevarambes bilden eine glückliche Gesellschaft. Der Erzähler stellt die hiesige Religion, Kultur, Gesetzgebung und Philosophie ausführlich dar und charakterisiert das Volk, indem er einige Sitten und ungewöhnliche Gebräuche detailliert beschreibt. Auf der Darstellung der Geschlechterbeziehung liegt ein besonderer Schwerpunkt, da der Staat hier regelnd eingreift: Jeder Mann darf sich zu bestimmten kulturellen Gelegenheiten eine Frau aussuchen. Übrigbleibende Frauen werden den Staatsbeamten zugeteilt, die aufgrund ihrer Verdienste polygam leben dürfen. Untreue wird schwer bestraft. Im letzten Teil der Erzählung wird die Entstehungsgeschichte des Volkes der Sevarambes dargestellt. Hier blendet sich der Erzähler völlig aus. In der dritten Person wird über den Staatsgründer Sevarias (ein Anagramm von Vairasse) erzählt. Dieser aus Indien stammende Prinz gelangte mit einer großen Schar von Anhängern 1427 nach Australien und assimilierte die Ureinwohner in sein Volk. Es wird von diversen Glaubenskriegen und der Entstehung der Religion und deren Funktion berichtet. Klassenstrukturen, Gesetze, politische Institutionen und Bräuche werden durch die ausführliche Darstellung der Geschichte des Volkes pseudohistorisch erklärt.

Am Schluss der Erzählung blendet sich der Ich-Erzähler wieder in die Erzählung ein; er stellt dar, warum die Assimilation der Schiffsbesatzung in das Volk der Sevarambes gescheitert ist und fasst den Plan, nach Europa zurückzukehren. Auf einem sevarambischen Segler reist Siden nach Indien und mit einer Karawane weiter bis Smyrna (Izmir), wo er sich auf einem holländischen Segler einschifft.

In dieser Erzählung steht die Darstellung eines utopischen Idealstaates im Vordergrund. Die Rahmenerzählung – das Schiffbruchereignis – nimmt auf historische Ereignisse Bezug und schafft ein glaubwürdigen geographischen und zeitlichen Rahmen. Der Gehalt an faktischen Details über reale Schiffbrüche holländischer Schiffe vor Australien ist aber recht hoch. Da faktische Berichte über Schiffbrüche damals nicht veröffentlicht wurden, diente der Text Veiras den zeitgenössischen Lesern auch als Informationsquelle über reale Ereignisse. „Fakt“ und „Fiktion“ sind hier kaum zu trennen:

In der Erzählung nennt Siden sein Schiff „Guldene Drach“; er reist am zwölften April 1655 nach Batavia ab und erleidet daraufhin an der Küste Australiens Schiffbruch. Er entsendet acht Seeleute mit einem Beiboot nach Batavia. In der „Vorrede an den Leser“ berichtet der angebliche Herausgeber, dass dieses Beiboot Batavia erreicht habe. Mit zwei nacheinander entsandten Fregatten sollten die Schiffbrüchigen gerettet werden. Man fand jedoch keine Überlebenden vor; die Mannschaft schien verschwunden zu sein. Dieser Teil der Erzählung korrespondiert mit den realen Ereignissen des Schiffbruches der „Vergulde Draeck“ 1656 und den Ergebnissen einer Rettungsaktion (siehe oben).

Der „Herausgeber“ berichtet darüber hinaus, dass er sich vor der Veröffentlichung des Manuskriptes von Siden mit einem Anwalt der VOC, Herrn von Dam, in Verbindung gesetzt habe, der den Bericht Sidens für wahr hielt. Sowohl diese Person als auch der erwähnte Gouverneur von Batavia Maetsuycker waren reale Personen, die mit den realen Ereignissen vor der australischen Küste vertraut gewesen sein müssen. Fausett vermutet daher, dass Veiras während seines Aufenthaltes in Holland 1672 mündlich Kenntnis über die geheim gehaltenen Ereignisse vor Australien erlangte, was die Ähnlichkeit der Erzählung zum historischen Schiffbruch der „Vergulde Draek“ erklären würde (New World, 121).[6]

Eine weitere Quelle der Erzählung könnte auch der oben dargestellte Text Nevilles gewesen sein. Ähnlich wie in Nevilles Erzählung, taucht auch hier das Motiv der Geschlechterbeziehung auf, welches durch die historischen Ereignisse während des Batavia- Unglückes zu einem literarischen Motiv wurde (siehe oben). So teilt der Kapitän Siden nach dem Schiffbruch die mitgereisten Frauen unter der männlichen Besatzung nach bestimmten Kriterien auf (33-37). Ebenso wie bei Neville erscheint die Frau als Objekt männlicher Befehlsgewalt; Geschlechterbeziehung und Patriarchat sind, ebenso wie bei Neville, Gegenstand der Erzählung.

Außerdem spiegelt das Motiv der Kulturbegegnung – die holländische Besatzung trifft auf die Einwohner Australiens – die Spekulationen über eine mögliche historische Kulturbegegnung zwischen den verschwundenen Schiffbrüchigen der „Vergulde Draeck“ und Ureinwohnern Australiens wider. Veiras Text bietet eine fiktive oder fiktionalisierte Antwort auf die Frage: Wie kann eine komplette Schiffsbesatzung einfach so verschwinden (Fausett, New World, 113-129)?

Der in vier Teile gegliederte Text ist in verschiedene Kapitel unterteilt und mit Überschriften und Randbemerkungen übersichtlich gestaltet. In der ersten Hälfte der Erzählung stehen die Seefahrt, der Schiffbruch, die Organisation des Überlebens und die Erlebnisse der Reisenden in ihren ersten Wochen in Australien im Vordergrund, während in der zweiten Hälfte die gegenwärtigen Verhältnisse des Staatsapparates und seine Geschichte beschrieben werden (Stockinger, „J.G. Müllers Übersetzung“, 191). Die Rahmenerzählung hat einen hohen Gehalt an Faktizität und handelt von einen zeitgenössisch sehr aktuellen Thema – der Erschließung Australiens. Allein dieser sehr enge Bezug zur Realität machte die Erzählung glaubwürdig. Bestimmte Rahmenbedingungen der Erzählung lassen sich sogar überprüfen. So spiegelt die Seeschlacht, in welcher der „Autor“ den Tod findet, den Beginn des Englisch-holländischen Seekrieges 1672-74 wider (Fausett, Strange Sources, XVII). Durch den Tod des einzigen „Augenzeugen“, des „Autoren“ Siden, wird die Erzählung unüberprüfbar. Darüber hinaus dienen die im Folgenden analysierten Stilmittel dazu, die Illusion der „Echtheit“ der Erzählung noch zu verstärken und ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen:

Gleich zu Beginn vergleicht der Erzähler seine Geschichte mit den von ihm als fiktiv erkannten Texten von Plato, More und Bacon. Dieses soll seiner Behauptung, von wahren Ereignissen zu berichten, Glaubwürdigkeit verleihen (Adams, Travel Lit., 101). Die Erzählung wird von fiktiven Texten abgegrenzt: “Wenn Ihr die Staats=Beschreibungen des Platonis / das Utopien des Ritters Mori / oder neuen Atlantis des Cantzlers Backonis, so nur Werke vernünftiger Ersinnung / gelesen; Dörfftet ihr etwa leichtlich glauben / dass die Erzählungen von neulich entdeckten Landen / wann ihr darinnen etwas wunderliches findet / eben von dieser Art seye“(1).

Entsprechend der oben dargestellten Tradition der Reiseerzählung werden Schiffsname, Abreisedatum, technische Einzelheiten des Schiffes, Reiseroute und Wetterbedingungen genannt:

Dieses Schiff / dessen Ladung ohngefähr 600 Tonnen seyn mochten / führte 32. Stück / bey nahe 400 Personen / so wohl Boots=Gesellen / als Reisende / und eine große Summe Geldes […] Wir huben den Anker in Texel / den 12. April im 1655sten Jahr / und segeltn mit starkem Ost=Wind durch den Kanal zwischen England und Frankreich hin / so hurtig und glücklich / als wir begehren konten / bis wir in die weite See kahmen. Darauf setzten wir unsere Reise auf die Kanarischen Inseln zu / und erfuhren bisweilen die Ungemütlichkeiten und Veränderungen der Winde. […] Worauf wir unseren Strich nach Cabo Verde stellten / welches gar von weitem zu Gesicht bekamen. […] Wir [setzten] unsere Reise bis zum dritten Grad der südlichen Breite / welchen wir den 2ten Augusti des selbigen 1655 glücklich erreichten, wohl fort (12,13).

Diese Beschreibung der Reiseroute erinnert sehr an die oben zitierte Beschreibung der Reiseroute Pines in der Erzählung Nevilles. Das Aufzählen von Daten und Fakten macht die Erzählung glaubwürdig. Obwohl weniger Wert auf die Wiedergabe wissenschaftlicher Beobachtungen gelegt wird, ist der faktische Erzählstil dem formalen Schema echter Reiseerzählungen sehr ähnlich. Der Erzähler rechtfertigt das Fehlen empirischer Beschreibungen von bereits bekannten (und überprüfbaren) Phänomenen:

Es ist wahr, dass wir inzwischen verschiedene Seewunder / fliegende Fische / neue Gestirne / und andere solche Dinge erblickten; Aber weil sie schon gewöhnlich / und wohl schon 100. mahl beschieben worden / […] laß ich mir vorstehen / dass ich nichts davon zu sagen habe / indem ich dieses Buch mit keinen unnützen Erzehlungen / (welche nichts anderes thun würden / als den Leser und meine Gedult abzumatten) zu vergrößern begehre (12-13).

Detaillierte Beschreibungen der Tierwelt und der Landschaft Australiens (welche vom Leser damals nicht überprüft werden konnten) sollen jedoch als Beleg seiner Anwesenheit dort dienen (71-76).

Konsequent vermittelt der Erzähler den Eindruck, von einer wahren Begebenheit zu berichten. So schildert er sowohl die Ereignisse des Schiffbruches und die Organisation des Überlebens als auch die erste Begegnung und den weiteren Kontakt mit dem Volk der Sevarambes nüchtern und chronologisch. Zwar erzählt Siden die Ereignisse aus seiner Sicht, hält sich aber mit Wertungen zurück. Teilweise distanziert er sich sogar vom Inhalt seiner Beobachtungen. Es entsteht somit der Eindruck, als vermittle er Fakten.

Trotz der Skepsis des Erzählers gegenüber seinen eigenen Beobachtungen erfährt das System der Sevarambes insgesamt aber eine positive Bewertung: „Und endlich wann man die Glückseligkeit dieses Volkes wohl betrachtet / so wird man befinden / dass dieselbe so vollkommen ist / als sie es in der Welt seyn kann und das alle anderen Nationen gegen sie zu rechnen vor Elend zu halten sind“ (180). Der Erzähler vermittelt den Eindruck, als basiere diese Wertung nicht auf seiner persönlichen Meinung, sondern auf der „objektiven“ Auswertung gesammelter Fakten. Dadurch soll vorgetäuscht werden, dass es sich bei diesem Text um eine wissenschaftliche Analyse handelt. Tatsächlich war die empirische Erhebung und rationale Auswertung von Daten nämlich eine Methode wissenschaftlicher Arbeitsweise, die in faktischen Reiseerzählungen zu finden ist (siehe oben).

In der zweiten Hälfte des Textes blendet sich der Erzähler völlig aus. Die geschichtliche Vergangenheit der Sevarambes und der Ursprung ihrer religiösen Feste wird erklärt. Bestimmte Feierlichkeiten werden realistisch dargestellt. So werden zum Beispiel Zeremonien so detailliert, sachlich und wertfrei beschrieben, dass der Eindruck erweckt wird, als handele es sich um eine Anleitung zur Durchführung (312-317).

Die Menge der detaillierten Beschreibungen vermittelt ein Gesamtbild des beschriebenen Volkes, welches empirisch gesichert zu sein scheint. [7]

Der Text wirkt daher wie eine objektive Schilderung von „echten“ Beobachtungen und ist formal von authentischen Reiseerzählungen schwer zu unterscheiden. Selbst der Gegenstand der Beschreibung – ein Volk und seine Kultur – ist nicht so ungewöhnlich für Reiseerzählungen; so ist Knoxs Beschreibung des politischen, kulturellen und religiösen Lebens auf Ceylon (1681) den Beschreibungen von Veiras sehr ähnlich.

Fausett ist sich über die Bedeutung des Textes nicht ganz im klaren: “Did Vairasse turn an ambigious story into an ideological effect, or was it the other way round? Was the idea his own or another´s ? Or did it simply reflect historical circumstances? Various evidence suggests that he (perhaps in collaboration with Locke or another) embroidered a contemporary Dutch anekdote“ (New World, 128). Stockinger sieht hingegen die Kritik an den religiösen Systemen Europas im Mittelpunkt dieses Textes.[8] Die Darstellung der Vergangenheit der Sevarambes vor der deutlichen Wende zur idealen, glückseligen Gesellschaft gleicht der realen, von Glaubenskriegen erschütterten Situation Europas. Die in der Erzählung geäußerte Kritik an der Vergangenheit der Sevarambes ist daher gleichzeitig auch eine Kritik am Ist-Zustand Europas, ohne dass diese explizit genannt werden muss (Stockinger, „J.G. Müllers Übersetzung“, 192). Obwohl sich der Erzähler Siden als Katholik bezeichnet und daher die Religion der Sevarambes kritisch und distanziert darstellt, scheint deren religiöses System besser zu funktionieren als die Systeme in Europa, da Glaubenskriege überwunden werden konnten und Staat und Gesellschaft auf Vernunft und Liebe basieren, was zu Stabilität und Glück führt. Die Religion der Sevarambes wurde vom Staatsgründer Sevarias geschaffen. Mittels moderner Waffentechnik gelang es ihm, die Ureinwohner Australiens zu täuschen und ihnen den Eindruck zu vermitteln, ein Gesandter ihres Sonnengottes zu sein (264-266). Aufbauend auf diesem Betrug errichtet er nun seinen Staat, indem er seine eigene religiöse Bedeutung benutzt, um mittels der Religion die Menschen zu einen und emotional zu binden. Dieses Motiv ist gleichermaßen in Smeeks Text zu finden.

In Veiras´ Erzählung wird die unterschiedliche Funktion von Religion diskutiert. In der Darstellung der Geschichte des sevarambischen Volkes wird von einer mächtigen Priesterschaft berichtet, welche die Religion in eine „Ideologie“ umgewandelt und zur Machtsicherung und Unterdrückung des Volkes missbraucht. Parallelen zur Situation der Kirche in Europa sind zahlreich; indirekt wird hier also ein Machtmissbrauch der Kirche in Europa impliziert (Stockinger, „´Realismus´, Mythos, Utopie“, 83-84).

Diese Darstellung der Funktion von Religion ist laut Stockinger Spinozas[9] Kritik am Missbrauch der Religion in Europa sehr ähnlich: „[Es] heißt in der Vorrede des Tractatus [Theologico-Politicus, 1670], es sei ein ´Geheimnis einer monarchischen Regierung, die Menschen in der Täuschung zu erhalten, und die Furcht, durch die sie im Zaum gehalten werden sollen, unter dem schönen Namen Religion zu verbergen´“(„´Realismus´, Mythos, Utopie“, 84).

Allerdings gelangt die sevarambische Gesellschaft durch geschicktes politisches Handeln zu einer höheren Stufe des Seins. Letztendlich unterwirft sich die Bevölkerung dem Staat freiwillig, da er „vernünftig“ organisiert ist und sich der Wille des Volkes in den Entscheidungen der Regierung wieder finden lässt. Religion ist hier somit kein „Druckmittel“ mehr, sondern dient der emotionalen Verbindung der Menschen untereinander; diese Bindung erhöht die Lebensqualität und ist daher Selbstzweck. Religion stabilisiert in dieser Erzählung den Staat, den das Volk einerseits aus Vernunftgründen, andererseits auch aus affektiver Bindung heraus bejaht: „Der Staat [der Sevarambes] basiert eben auf Vernunft und Liebe, und nur deren Verbindung garantiert eine stabile Gesellschaft“ ( Stockinger, „´Realismus, Mythos, Utopie“, 89). Die Funktion der Religion im Text Historie der Sevarambes entspricht genau der Staatsideologie Spinozas (Stockinger, „´Realismus´, Mythos, Utopie“, 86).

In dieser Erzählung führt rationales, politisches Handeln auf der Basis der Vernunft zu einem guten System. Hier wird Religion als naturgemäß notwendig dargestellt, da sie den rationalen Staat stärkt und emotionale Bindungen schafft. Dogmatische und Macht missbrauchende Institutionen bestimmen dabei aber keineswegs den Inhalt und die Form des Glaubens, sondern Glaube erscheint als natürlicherweise gegeben.

Dieser Text spiegelt kritische Gedanken der Zeit wider, die sich gegen den Dogmatismus und die institutionelle Macht der Kirche wandten. Die vielen Parallelen zwischen der Staatsbeschreibung und -entwicklung der Sevarambes und der Philosophie von Spinoza machen deutlich, dass sich seine philosophischen Ideen in dieser fiktiven Reiseerzählung wieder finden.

Stockinger macht deutlich, dass die Utopie des siebzehnten Jahrhunderts nicht die ideale, real mögliche Zukunft darstellen sollte, sondern lediglich dazu diente, Missstände zu kritisieren. Dieses gilt auch für den Text von Veiras. Da er aber in seiner Erzählung geschichtliche Abläufe als fortschreitenden Entwicklungsprozess darstellt und die Schaffung des Idealstaates der Sevarambes als Folge von rationalem, politischen Handeln beschreibt wird impliziert, dass solches Handeln die Welt und die Gesellschaftsform verändern und verbessern kann. Dieser Gedankengang war damals revolutionär, da der Mensch nicht mehr nur als untergeordneter, machtloser Faktor im Universum Gottes gesehen wird, sondern seine Welt durch selbstständiges Handeln mitgestalten kann (Stockinger, „Johann Gottwerth Müllers Übersetzung“,186-195). [10]

Die Erzählung von Veiras ist Beitrag zur zeitgenössischen philosophischen Diskussion zu sehen. Der in seiner Erzählung implizierte Fortschrittgedanke wird auch unter Philosophen diskutiert und bereitet nachfolgend der Philosophie der Aufklärung den Weg. In Veiras Erzählung spiegelt sich also der geistige Prozess des Umbruches vom mittelalterlichen Weltbild zur Systemontologie wider.

Der oben ausführlich dargestellte, realistische Erzählrahmen und die erzähltechnische Vortäuschung der „Echtheit“ der Erzählung ermöglichte überhaupt erst die Veröffentlichung dieser zeitkritischen Gedanken. Da der Text ein authentischer Bericht zu sein scheint, macht man den „Herausgeber“ nicht für den Inhalt verantwortlich. Der tatsächliche Autor Veiras konnte sich als „Herausgeber“ stets hinter dem scheinbaren Autor Siden verstecken.

7.3. Mighty Kingdom of Krinke Kesmes (1708) von Hendrik Smeeks

Smeeks´ Text erschien erstmals 1708 in Holland unter dem Titel Beschryving van het magtig Konigngryk Krinke Kesmes (Rosenberg, “Mighty Kingdom“, 376). Smeeks[11] gibt sich als „Herausgeber“ dieser Erzählung zu erkennen und betont öffentlich, dass die Erzählung wahr sei (Fausett, Strange Sources, 97). Dieser Text spiegelt philosophische Diskussionen der Zeit wider; satirische Kritik und moderne Ideen sind in der Erzählung zu finden, und das Verhältnis von Religion und Politik steht – ebenso wie bei Veiras – im Mittelpunkt der Beschreibung eines utopischen Staates in Australien. Dieses brachte dem Autoren viel Kritik seitens der Kirche ein; man warf ihm vor, sich den gotteslästernden Ideen Spinozas anzuschließen. Er wurde exkommuniziert (Fausett, Mighty Kingdom, XXVIII).

Der Text ist eine fiktive Reiseerzählung, die sowohl einen schwerpunktmäßig utopischen Teil (Beschreibung eines imaginären Staates als Satire auf europäische Realität), als auch eine realistische Erzählung (die Robinsonade: Überlebenskampf des El- Ho in Isolation auf einer Insel) beinhaltet. Ähnlich wie bei Neville und Veiras dient eine realistische Rahmenhandlung und ein der Tradition der faktischen Reiseerzählungen entsprechender Erzählstil dazu, Glaubwürdigkeit zu produzieren. Allerdings tritt das utopische Element der Erzählung im Vergleich zum Text von Veiras in den Hintergrund. Ein gesellschaftlicher Wandel zum Individualismus, der durch den Wandel des Weltbildes provoziert wurde, schlägt sich in Smeeks´ Text nieder. Im Gegensatz zu den gemeinschaftlichen Idealen der Utopie dient in dieser Erzählung nämlich die idealtypisch dargestellte Isolationssituation eines Einzelnen – die Robinsonade – als Beleg für die philosophische These, dass der Mensch weder auf „Gesellschaft“, noch auf bestimmte Dogmen angewiesen ist, um seine Umwelt zu erkennen. Er kann die Welt vielmehr autonom, mit Hilfe seiner sinnlichen Wahrnehmung interpretieren. Hier wird idealtypisch verdeutlicht, dass sich der einzelne Mensch mittels Rationalität und Erfahrung seine eigene Welt schaffen und zufrieden darin leben kann (Fausett, “A Crossing of Ideas“, 78).

Diese These ist in eine Diskussion über philosophische Erkenntnistheorien eingebunden, die sich im utopischen Teil der Erzählung verbirgt; hier wird Descartes Philosophie explizit mit moderneren Erkenntnistheorien des beginnenden Empirismus verglichen.[12]

Smeeks Reiseerzählung bereitet dem bei Defoe zu findenden Individualismus maßgeblich den Weg. Defoe benutzte den Text Smeeks´ als Modell; er ließ lediglich den utopischen Aspekt weg und konzentrierte sich völlig auf das anti-utopische Robinson-Motiv.[13] Die Weltanschauung Crusoes, die sich an einem „aufgeklärten“ Weltbild orientiert, wird anhand der philosophischen Diskussion in Smeeks Erzählung in ihrem Entstehungsprozess dargestellt. Smeeks Text markiert den literaturgeschichtlichen Umbruch von der Utopie zur Robinsonade.[14]

Die Verwendung des Robinson-Motivs bei Defoes ist der bei Smeeks sehr ähnlich; viele Details der Isolationssituation von El-Ho sind im Text von Defoe wieder zu finden. Die Erzählung von El-Ho diente Defoe als Quelle und ist direkter Wegbereiter der Robinsonade. (Rosenberg, “Mighty Kingdom“, 376) Daher gilt diesem Teil des Textes von Smeeks hier auch die Hauptaufmerksamkeit.

Smeeks bezeichnet sich im Vorwort als „Herausgeber“ der folgenden Erzählung, die der Erzähler, der sich de Posos nennt, selber verfasst habe (1-2). Der Text ist in acht ungleich lange Kapitel gegliedert. Nach einigen Angaben zu seiner Jugend erzählt ein zunächst anonymer Ich-Erzähler retrospektiv, wie er Seemann wird, sich mit einem Arzt anfreundet und über ihn erstmals die Figur des „Master“ kennen lernt. Nachdem er einige Jahre zur See gefahren ist, lernt er das Kupferhandwerk in Holland, da dieser Beruf eine Karriere in Übersee verspricht. Er fährt nun auf einem Handelsschiff zur See, trifft sich in Spanien erneut mit dem „Master“ und tritt in seine Dienste. Der Erzähler erledigt einige Übersee-Geschäfte für ihn, nimmt den spanischen Namen Juan de Posos an und tätigt 1679 bis 1696 Geschäfte im Handel mit Amerika. Er wird Teilhaber einer Handelskompanie. Auf einer Reise von Panama zu den Philippinen gerät sein Schiff in einen Sturm. Vor der unbekannten australischen Küste erleidet de Posos Schiffbruch und rettet sich mit seiner Crew an Land. Hier befindet sich das Königreich Krinke Kesmes (Kesmes ist ein Anagramm von Smeeks). Man wird freundlich aufgenommen und die Figur des Garbon (kesmesiches Wort für Aufseher) macht de Posos detailliert mit den Gesetzen und Bräuchen des Landes bekannt. Auch stellt er ihm diverse Manuskripte über Sitten, Gebräuche und Philosophie des Landes zum Kopieren zur Verfügung. Topographie, Architektur, Flora und Fauna, Geschichte, Regierungsform, Religion, Ethik, Bildungswesen, Wissenschaft und Philosophie werden nun teilweise sehr detailliert dargestellt.

Während seines Aufenthaltes im Königreich Krinke Kesmes trifft der Erzähler De Posos auf die Figur El-Ho, der als Schiffsjunge zur See gefahren ist und nach einem Landgang auf einer unbewohnten Insel vor der Küste Australiens von seiner Crew versehentlich zurückgelassen wird. El-Ho schildert seine Erlebnisse in einer Ich-Erzählung, die in die Erzählung von De Posos eingebunden ist.[15] So lebt er allein auf der Insel, baut sich Festungen, legt Vorräte an, findet ein Schiffswrack, in dem er weitere Vorräte und Werkzeug findet, und kämpft in mehreren blutigen Auseinandersetzungen gegen die Urbevölkerung der Insel. Er wird von einem anderen Volksstamm entführt und lebt kurze Zeit in deren Dorf, bevor er durch die Krieger des Königreiches Krinke Kesmes befreit wird.

De Posos baut während seines Aufenthaltes im Südland Handelsbeziehungen mit dem Königreich Krinke Kesmes auf, die ihm große Gewinne bringen und ihn auch in die Heimat zurückführen.

Ebenso wie in den oben analysierten Texten ist die Beschreibung des Königreiches und der Inselisolation von El-Ho in einen faktischen Erzählrahmen eingebunden. Tatsächlich ist der faktische Gehalt der Erzählung recht groß.[16] Smeeks hatte sehr genaue Informationen über die historischen Ereignisse vor der Küste Australiens, die er in seine Erzählung einfließen lässt. Ort der Handlung dieser Geschichte ist das bis dahin noch immer nicht endgültig erschlossene „Südland“. So diskutiert der Erzähler de Posos im Vorfeld seiner eigenen Reise mit einem Freund über die Expedition des holländischen Kapitäns de Vlaming[17]: “[…] the question I raised with my friend was, what he thought about de Vlamink´s voyage to explore the Southland? He replied, I think that de Vlamink will be unable to fulfil the expeditions of his shipowners, and that the Dutch should expect as little of him as the English of their Dampier“ (19). In dieser Diskussion wird der zeitgenössische Stand der Erforschung der Küste Australiens dargestellt; tatsächlich enthält die Erzählung hier einige faktische Informationen über die jüngsten, realen Australien-Reisen von Dampier und de Vlaming. So, beispielsweise, wird in Smeeks Text erzählt, dass de Vlaming während seines Aufenthaltes vor der australischen Küste Kanonenschüsse und Böller abfeuerte. Dieses Verhalten verurteilt der Erzähler, da die Kanonenschüsse die Bevölkerung des Südlandes so erschreckt hätten, dass sie sich versteckt hielten und es deswegen nicht zu einem Kulturkontakt kam. Der Erzähler gibt an, diese Informationen von Seglern, die mit de Vlaming gereist seien, erhalten zu haben (22-23). Fausett macht darauf aufmerksam, dass de Vlaming auf der hier erwähnten historischen Reise den Auftrag hatte, an der Küste Australiens nach Überlebenden des Schiffbruches der „Vergulde Draeck“ zu suchen, und aus diesem Grund vermutlich wirklich Kanonenschüsse abgefeuert hat. Fausett nimmt an, dass Smeeks diese Informationen tatsächlich von einem mitgereisten Seemann erhalten hat, da derartige Details der Reise nicht veröffentlicht wurden. Hier spiegeln sich also Fakten der wirklichen Reise wider (“Smeeks and the Nijptang Journal“, 18). Smeeks´ Text war somit auch Informationsquelle über die geheim gehaltenen Ereignisse vor der Küste Australiens.

Der fiktive Schiffbruch de Posos ist so in diesen faktischen Erzählrahmen eingebunden, dass die fiktive Erzählung für den zeitgenössischen Leser glaubwürdig und kaum von faktischen Ereignissen zu trennen war. In diesen Erzählrahmen eingebettet schildert der Erzähler den utopischen Staat Krinke Kesmes, der sich in einem unbekannten Teil des Südlandes befinden soll. Da Smeeks´ Zeitgenossen den möglichen Echtheitsgehalt aufgrund fehlender empirischer Daten über Australien kaum bestimmen konnten, war somit die Voraussetzung für die Darstellung eines utopischen Staates, der als Satire auf die Verhältnisse in Europa aufzufassen ist, geschaffen.

Sehr eng angelehnt an faktische Ereignisse ist insbesondere die Erzählung von El-Ho über seine Isolation auf einer Insel; in seinen Angaben über seine Vergangenheit spiegeln sich die oben dargestellten historischen Ereignisse um den Schiffbruch der „Vergulde Draeck“ wider, welche auch den faktischen Rahmen für die Reiseerzählung von Veiras bilden.
I was a twelve-year old Boy, and able to read and write when I arrived in Batavia as a Cabin Boy in the service of the East Indies Company; this was in the year 1655. Having been there for three months, I was ordered to report, with my sea-cheast, the following morning to the Ship the Wakende Boey, which was to sail to the Southland, in order to collect the Castaways of the Ship the Goude Draak, which had been wrecked there, and to bring them back to Batavia.

When we came there, we found the Ships Wreck, fired off three guns as a signal that we arrived, but no-one showed up on the beach.

Tatsächlich war die Wakende Boey ein reales Schiff, mit welchem erfolglos nach Überlebenden der Vergulde Draeck gesucht wurde (siehe oben). Dieses faktische Erzählmaterial schafft den glaubwürdigen Rahmen für die Isolations-Erzählung: El-Ho behauptet, während eines Landganges auf einer Insel zurückgelassen worden zu sein (60-63).

Details dieser Erzählung spiegeln darüber hinaus auch faktische Ereignisse der Reise de Vlamings von 1696-97 wieder. So gewinnt El Ho Trinkwasser durch das Graben eines Erdloches in der Nähe eines Brackwasserteiches, entdeckt Fußspuren und findet einen Pfahl mit Zinnplatte und Inschrift (62). Gleiche Motive werden in der Reiseerzählung “Nijptang- Journal“ (1701) von de Vlamings Schiffsarzt Mandrop Torst dargestellt. In dieser faktischen Erzählung schildert Torst, dass die Crew de Vlamings auf einer unbewohnten Insel einen Pfahl mit einer beschrifteten Zinnplatte findet, der von dem Segler Hartog hier 1616 zurückgelassen wurde. Ebenso finden sich in der Erzählung von El-Ho Beschreibungen von Vögeln, die ebenfalls aus der faktischen Erzählung Torsts übernommen wurden. Sowohl dieses Motiv der Vögel als auch das des künstlich errichteten Pfahles tauchen ebenfalls in Crusoes Erzählung wieder auf (Fausett, “Nijptang Journal“, 18-20). Auch in Grimmelshausens Text sind diese Motive zu finden (siehe oben).

Die Isolationsepisode des El-Ho hebt sich deutlich von der Erzählung de Posos ab. Während die Erzählung de Posos umständlich und ausschweifend ist, schildert El Ho seine Erlebnisse lebhaft, knapp und sachlich, entsprechend der Tradition der faktischen Reiseerzählung.[18] Allerdings wird auf die wissenschaftliche Sammlung von Daten völlig verzichtet. Der Erzähler schildert chronologisch und Fakten orientiert von den Ereignissen seines Inselaufenthaltes. Ebenso wie Knox stellt er dabei auch seine Gefühle, Ängste und auch Situationen der Orientierungslosigkeit sachlich dar und sucht sofort nach einer rationalen Lösung: “I wanted to go back, and look for our Men or for the beach; I walked at least two hours to get out of the Woods, but I strayed further and further: I called, I cried, I shouted till I was hoarse! I was full of terror and fear, my anxiety was unspeakable. […] What was I to do“ (59)? Allerdings ist der Erzähltext hier etwas dramatischer gestaltet als üblich; Aufzählungen und kurze Sätze produzieren Spannung; trotzdem sich die Erzählung am faktischen Reisetext orientiert, ist in einigen Passagen der El-Ho -Episode der kunstvolle Gebrauch von Stilmitteln zu erkennen, der sich nicht mehr nur ausschließlich an der „objektiven“ Aufzählung von Fakten orientiert.

Diesen kunstvollen Gebrauch von Stilmitteln kann man in Defoes Text wieder finden. So wird beispielsweise durch die Aneinanderreihung von Fragesätzen die Ungewissheit der Figur bezüglich der Herkunft von Fußspuren am Strand dargestellt, ohne dass der sachliche und objektive Unterton der Erzählung verloren geht: “Where was the vessel that brought them? What marks was there of any other than footsteps? And how was it possible a man should come there“ (163)?

Ähnlich wie Knox und Crusoe, entwickelt die Figur El-Ho im Laufe des Inselaufenthaltes einen stärkere Religiösität: “God had saved me from so many dangers, I once prayed with all my heart, and having finished, I made a fire in God´s name, ate a belly full of Biscuit, [and] drank a goblet of wine to follow […]“ (76). Ebenso wie Crusoe stehen El-Ho Werkzeuge zur Verfügung, mit welchen er sich Festungen baut; er führt Tagebuch, listet seinen Besitz präzise auf, produziert Kerzen, findet einen Hund in einem Schiffswrack, befährt mit seinem Boot die Lagune, liest die Bibel, flicht Körbe und sieht sich als Herrscher über die Insel, was in seinem Verhalten gegenüber anlandenden Ureinwohnern deutlich wird (75-76). El-Hos Vernunft bedingtes, rationales Handeln rettet ihm im Kampf mit der als kindlich und dumm dargestellten Urbevölkerung das Leben: “Now I intended to defend my castel, even if no armed people came“ (Smeeks, 77). Stilistisch ist der Text dem von Knox sehr ähnlich; auch gleichen sich beide Protagonisten sowohl in ihrer Denk- und Handlungsweise als auch im implizit dargestellten Charakter (wie in der Reiseerzählung üblich, gibt fast ausschließlich die Handlung der Person Auskunft über ihren Charakter). Idealtypisch wird in dieser Erzählung dargestellt, wie El-Ho durch rationales Denken und Handeln sein Leben in Isolation zu seiner Zufriedenheit organisiert. Dieses finden wir auch bei Defoe wieder.

Die Erzählung des El-Ho ist allein durch die spektakuläre Handlung interessant; schon der Bezug zu faktischen Ereignissen und die stilistische Ähnlichkeit zur faktischen Reiseerzählung machten den Text für zeitgenössische Leser glaubwürdig. Da die Erzählung so sehr mit verschiedenen faktischen Ereignissen korrespondiert vermuten einige Kritiker, dass die Isolationssituation einer einzelnen Person im Rahmen der wirklichen Erkundung Australiens durch die Holländer tatsächlich stattgefunden haben könnte (Polak, 306). Auch könnte das in dieser Erzählung verwendete Motiv der Kulturbegegnung auf realen Kontakten von Seglern mit Ureinwohnern Australiens beruhen. Fausett betont, dass bis 1656 insgesamt einundachtzig Holländer an der Küste Australiens verschwunden sind: “It is likely that any castaways would have died or been killed, but their survival and even integration into local tribes cannot be ruled out; and at the time it was not, as VOC records show“(Mighty Kingdom, XXXI). Ebenso wie die Erzählung von Veiras bietet Smeeks´ Text seinen zeitgenössischen Lesern also eine mögliche Erklärung für das reale Verschwinden einer Schiffsbesatzung vor Australien.

Sowohl dem utopischen Teil der Erzählung de Posos, als auch der ihn umgebenden Rahmenhandlung wird durch stilistische Mittel Glaubwürdigkeit verliehen. Rosenberg betont, dass die Beschreibungen des Königreiches, also der utopische Teil des Textes, nur ein Drittel der gesamten Erzählung ausmacht (Mighty Kingdom, 378). Mit Daten und Fakten zu seinen Handelsaktivitäten und einer autobiographischen Darstellung seines Werdeganges schafft der Erzähler hierfür einen glaubwürdigen Erzählrahmen.

Fausett betont, dass Defoes´ Erzähltechnik und seine stilistischen Mittel, welche der Erzählung Glaubwürdigkeit verleihen sollen, Smeeks Methoden zur Vortäuschung von Echtheit sehr ähnlich sind. Darüber hinaus wurden in der El-Ho -Episode Stilmittel zur Darstellung der Gefühlssituation der Figur benutzt, wie oben deutlich gemacht wurde. Auch dieses lässt sich bei Defoe wieder finden. Wesentliche Merkmale der Textgestaltung Defoes sind also schon bei Smeeks zu finden: “What Smeeks achieved can, if viewed in the context of the novelist´s art as it was in 1708, seem no less remarkable than Defoe´s later achievment“ (Strange Sources 13).

Folgendermaßen wird dem Leser von Krinke Kesmes durch erzählerische Mittel die Illusion, eine faktische Geschichte zu lesen, vermittelt: (Unter anderem dienen hier Orts- und Zeitangaben als Beleg für den Wahrheitsgehalt der Erzählung) “So I departed with the Gallion in the year 1679. I had order to run their house first in Porto Bello, and then in Carthagena, where I arrived savely, and conducted my business to the satisfaction of my Patrons“ (9). Eine Abhandlung über eine mögliche Verbesserung des Texel- Kanals in Holland soll darüber hinaus Glaubwürdigkeit erzeugen; tabellenartig werden hier sensationelle Techniken zur Verbesserung der Schiffsanleger aufgezählt, die im einzelnen aber nicht erklärt werden: “1. How a Pier broken underneath may be repaired, where one cannot drive piles. 2. How other damaged piers are to be repaired“ (24). Der Erzähler stellt sich hier indirekt als gebildeten, logisch denkenden Menschen dar. Dieses Bild wird durch die nüchterne Schilderung seiner großartigen Leistungen auf allen seinen Tätigkeitsgebieten unterstützt. Diese Funktion hat auch eine wissenschaftliche Abhandlung über Skorbut. Der Erzähler gibt an, den Text über Skorbut aus einem Buch eines befreundeten Arztes kopiert zu haben. Auf mehreren Seiten werden hier Symptome und Ursachen der Krankheit beschrieben und ein Rezept für ein Gegenmittel vorgestellt (12-18). Oftmals werden Informationen tabellenartig dargestellt. Das verleiht der Erzählung Glaubwürdigkeit (siehe oben). Ebenso wie im Text von Veiras verzichtet der Erzähler de Posos auf die Beschreibung bereits bekannter Phänomene und Orte: “At this point I could give a discription of Porto Bello […] but this is not my object, because many such descriptions have [been] made as well as been written down“ (9). Detailliert werden aber Landschaften, Orte und Kultstätten im unbekannten Königreich beschrieben: “The terrace was fifteen feet in Diameter, and surrounded by a railing; in the centre was a high Pedestal, upon which the Angel Baloka was exhibited on all Holy days […] Nearby stood an unlocked copper Casket, containing a key and a copper horn“ (106).

Der Erzähler stellt sogar die Sprache der Einwohner dar und übersetzt die wichtigsten Worte: “Pakkam and Krapakkam: Pakkam is very fine Wool, finer than Spanish […] Krapakkam is the fabric woven from this, similar to the dutch Moleskin, yet rain proof […] Sisa Cotton, Krasisa cotton fabric, of all kinds. Monaka Silk, both, refinded and fresh. Boula, Honey. Boulaka, Wax“ (121). Diese Kunstsprache ist in Teilen an die Sprache Bahasa Malay angelehnt; viele Vorsilben und teilweise ganze Wörter sind aus dem malaysischen entliehen (Fausett, Mighty Kingdom, XV).[19] Darüber hinaus sagt der Erzähler, dass alle europäischen und asiatischen Sprachen ebenfalls gesprochen und unterrichtet würden. Die Sprache der Einwohner des Königreiches war also nicht das einzige Mittel der Verständigung und musste daher nicht in allen Einzelheiten dargestellt werden, um die Glaubwürdigkeit der Erzählung zu untermauern.

In den Beschreibungen der Grundsätze der kesmesianischen Gesellschaft ist die erzählende

Stimme keiner Erzählfigur zuzuordnen: “The common good, and fear were the origin of diverse Gods in ancient times, as well as of Religion.[…] Law is necessary in order to live according to reason“ (51). De Posos betont, diese allgemeinen Regeln und Gesetze direkt aus den Gesetzbüchern des Volkes abgeschrieben zu haben. Der veränderte Erzählmodus verleiht dieser Behauptung Glaubwürdigkeit (50).

In den trockenen Aneinanderreihungen der kesmesianischen Grundsätze verbergen sich die religionskritischen Aspekte der Erzählung. Sie spiegelt die gleiche Kritik wider, die auch im Text von Veiras steckt. Auch inhaltlich sind viele Parallelen zu finden: In der fiktiven Geschichte des Landes wird die Entstehung der Religion der Kesmesianer erklärt. Zuwanderer aus Europa und Asien vermischen sich mit den Ureinwohnern Australiens. Es entwickelt sich eine Religion, die sowohl Elemente des christlichen, moslemischen und indischen Glaubens beinhaltet, als auch den „Sonnenkult“ der Ureinwohner berücksichtigt; das Motiv der Vermischung von Religion und deren Darstellung anhand der fiktiven Geschichte des Volkes findet man auch bei Veiras. Fausett weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Smeeks den Text Veiras´ als Modell für seine eigene Erzählung benutzte (Fausett, “A Crossing of Ideas“, 69-71). Da Defoe Smeeks Text als Quelle verwendete wird – unabhängig von den bereits aufgezeigten Ähnlichkeiten – noch einmal deutlich, dass alle Erzählungen in einer gemeinsamen Tradition stehen.

In den „Maximen der Religion“ (51-56) werden Grundsätze der Religion der Kesmesianer formuliert, die laut Fausett den Ideen von Spinoza sehr ähnlich sind (“Crossing of Ideas“, 75). Die Maxime, dass „Religion“ eine Folge von „Bildung“ sei und es daher so viele Religionen geben kann wie Sprachen, spricht für die freie Ausübung von Religion: “Education gives each Person his Religion, in much variety as there are Languages“ (51).

De Posos erzählt, dass es aber in der Vergangenheit des Landes zu Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Glaubensrichtungen kam und die Stabilität des Staates in Gefahr geriet, so dass alle Sekten – aus Vernunftgründen und zum Trotze der eigenen Maximen – verboten wurden. Ebenso wie im Text Veiras werden hier die europäischen Glaubenskriege sowie die Dogmen und Machtinteressen der europäischen Kirche karikiert.

Auch portraitiert der Erzähler Europa als ein Modell religiöser Toleranz. Hier wird ebenfalls der satirische Inhalt der Erzählung deutlich (Fausett, New World, 146).[20]

Ebenso faktisch und trocken, in Teilen ebenfalls im juristischen oder philosophischen Stil verfasst, berichtet de Posos auch von der Existenz zweier Gelehrten-Inseln namens „Nemnan“ (Anagramm des holländischen Wortes für “Männer“, Mannen) und Wonvuren (Anagramm des holländischen Wortes für „Frauen“, Vrouwen).

Der Erzähler de Posos erfährt von anderen Figuren und aus kesmesianischen Texten von den Inseln, den Gelehrten und ihren unterschiedlichen Philosophien. Diese Beschreibungen wirken glaubwürdig, da sich der Erzähler aus der Erzählung ausblendet, nachdem er vorgibt, nur das wiederzugeben, was er in anderen Texten gelesen habe. Zitierte Briefe dienen ebenfalls als Echtheitsbeleg (50). In diesem Teil der Erzählung werden die Thesen Descartes kritisch diskutiert und die europäischen Wissenschaftler karikiert. Diese Kritik verbirgt sich hinter dem oben dargestellten faktischen Erzählrahmen, dem australischen Rahmen der Erzählung und der Vortäuschung von Authentizität.

Auf der Insel Wonvuren leben nur Frauen, auf Nemnan nur Männer. Beide Inseln dienen dazu, den Bewohnern die Möglichkeit zu geben, in Ruhe und Abgeschiedenheit zu studieren, so dass sich hier die geistige Elite des Königreiches aufhält.

Die Beschreibung der Insel der Männer ist eine Parodie auf die holländischen Universitäten und ihre geistigen Führer (Fausett, “Crossing of Ideas“, 65). Auf Nemnan wurde mittels rationaler Wissenschaft das Perpetuum Mobile erfunden, und man arbeitet nach dem Descartschen Grundsatz non datur vacuum (42). Die wissenschaftliche Methode der Männer ist losgelöst vom Bezug zu Alltäglichem und erscheint sehr abstrakt. Die Kritik an ihren wissenschaftlichen Methoden geschieht indirekt, nämlich durch die Darstellung einer Gegenposition: Die weiblichen Wissenschaftlerinnen auf Wonvuren vertrauten auf ihren gesunden Menschenverstand. Sie glauben an die Existenz des Vakuums, da sie festgestellt haben, dass Babys, die an der Mutterbrust trinken, von sich aus in der Lage sind, zu saugen (45). Auch kritisieren sie die abstrakten Methoden der Mathematik, die auf Nemnan Verwendung finden und befürworten zum Beispiel eine praxisorientierte Wissenschaft:

But on Wonvuren, one learns a more solid basis, in that their Mathematics consists not so much in diagrams and lines on paper (unless the diagram can be expressed in numbers), existing only on paper (and in the mind of an individual) as in Technics (Mechanics) which they demonstrate clearly and certainly, not by means of drawings on paper, but by means of bodies of manifold constructions (45-46).

Auch kritisieren die Frauen explizit bestimmte Thesen Descartes über die Wahrnehmung (47). Im Gegensatz zur Meinung der Männer erkennen die Frauen, dass Probleme bezüglich religiöser, ideologischer und psychologischer Ideenkonzepte kulturellen Ursprunges sind und sich über „Bildung“ weitervererben (54-56). Hier ist auch die Vorstellung zu finden, dass ein Kind von sich aus zunächst frei von ideologischen und religiösen Konzepten sei und erst durch „Bildung“ Kenntnis darüber erlangt. Diese Idee war zu jener Zeit sehr modern und wurde insbesondere durch den Empiristen John Locke vertreten, der mit dieser These der Philosophie der Aufklärung den Weg ebnete (Fausett, “Crossing of Ideas“, 74). Die Ideen der Frauen machen deutlich, dass der Mensch, wenn er sich auf seine Sinne und seinen gesunden Menschenverstand verlässt, seine Umwelt begreifen und erkennen kann. Ihre Thesen richten sich somit gegen den Dogmatismus der männlichen Forscher. Deren Vorstellungen, welche die Ideen der etablierten Philosophen Europas widerspiegeln, werden hier als veraltet und realitätsfern dargestellt.

Die Erzählung des El-Ho ist ein indirekter Beleg für die Thesen der Frauen. Obwohl El-Ho relativ ungebildet ist und als Schiffsjunge der sozialen Schicht des Mittelstandes zuzuordnen ist, organisiert er sein Überleben in Isolation selbstständig. Gesunder Menschenverstand erscheint als eine Eigenschaft, die jedem Menschen gegeben ist und die völlig ausreicht, um die Welt zu erkennen und deuten und zu überleben. Die Isolationssituation von El-Ho dient als idealtypisches Fallbeispiel, welches diesen Umstand verdeutlichen soll. Dabei löst sich El-Ho auch von religiösen Dogmen und übt den Gottglauben nach eigenem Ermessen und Sachverstand aus. Idealtypisch wird hier bewiesen, dass weder die menschliche Gemeinschaft, noch religiöse und wissenschaftliche Dogmen zum Überleben notwendig sind. Das Individuum wird somit als autonom erkennendes Subjekt dargestellt. Gesunder Menschenverstand sichert sein Überleben. Diese Idee entspricht den Erkenntnistheorien des Empirismus und steht den Thesen Descartes gegenüber. (siehe Fußnote 76 und Fausett, „A Crossing of Ideas“, 81) Diese Philosophie liegt auch dem Text von Defoe zugrunde und bildet die Basis für die Figur des Robinson Crusoe. Schonhorn betont, dass sich in Defoes Crusoe ebendiese Ideen empiristischer Philosophie wieder finden lassen (20).

Auch die puritanische Religiosität und emblematische Weltdeutung, die als Strukturmerkmal den oben beschriebenen Reiseerzählungen zugrunde liegt und Robinson Crusoe maßgeblich mitbestimmt, ist in der Erzählung El-Hos zu finden. In beiden Texten offenbart sich göttliches Schicksal völlig durch die Natur: So, beispielsweise, erkennt El-Ho in einer erfolgreichen Jagd Gottes Fügung: “I boiled and roasted his meat, until he started to smell, […] and thanked God for His goodness“ (67). Hunter macht deutlich, dass Crusoes Religiosität besonders die individuellen Rechte auf Selbstschutz und Selbsterhaltung betont. Da sich Gott in Crusoe völlig durch die Natur offenbart, hat die Figur Crusoe auch das natürliche Recht auf Selbstschutz, nach dem Motto: Gott hilft dem, der sich selber hilft (Paul Hunter, 4-6). Ebenso sieht El-Ho seine Selbstschutzmaßnahmen als natürlich und damit auch als gottgefällig an. Novak betont, dass Crusoes Auffassung von Religion die zeitgenössischen Ideen Lockes und Burnets widerspiegelt. Er betont, dass Defoe durch diese Philosophie beeinflußt war: “In his attitude towards original sin and repentance, Defoe was clearly a writer in the Puritan tradition, but his Puritanism was that of a contemporary of Locke and Thomas Burnet. He was enourmously influenced by the rationalism of his day“ (13). Die Religionsauffassung und die philosophischen Ideen der Figur Crusoe spiegeln also zeitgenössische Ansichten wider, die auch schon im Text von Smeeks zu finden sind.
8. Zusammenfassung

[1] Henry Neville, 1620-1694, war Verfechter der republikanischen Idee und Aktivist während der revolutionären Wirren in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. 1651 wurde er Staatsrat, legte dieses Amt aber bald nieder und wandte sich gegen Cromwells Diktatur. 1654 wurde er aus London verbannt. Der Vorwurf der Gotteslästerung und der Verdacht der Teilnahme am Yorkshire-Aufstand brachte ihm eine einjährige Haftstrafe im Tower von London ein. Anschließend führte er ein zurück gezogeneres Leben und machte gelegentlich als politischer Satiriker und Moralkritiker auf sich aufmerksam (Reichert, 56; Maltzahn, 41-50).

[2] Lediglich die Schwarze wird als Frau mit einem eigenen Willen dargestellt; während Pines alle weißen Frauen zu Sexualverkehr „überzeugen“ muss, sucht die Sklavin von sich aus seine Nähe (Neville, 232). Eine nähere Untersuchung des hier vermittelten Bildes der Schwarzen wäre sicherlich interessant, würde aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

[3] Tatsächlich finden wir diese Verwendung des Robinson-Motivs auch in Shakespeares The Tempest. Durch das Motiv der Isolation Prosperos und seiner Tochter und der danach zustoßenden Gegenspieler, schafft Shakespeare auf der Insel eine Situation politischer und sozialer Verknüpfungen, die nur in Isolation möglich ist. Auch hier dient das Robinson-Motiv als Kunstgriff, mit welchem Shakespeare die Rahmenbedingungen für die Darstellung eines bestimmten Mikrokosmos schafft und eine Idee idealtypisch ausarbeitet. Darüber hinaus gibt es weitere Ähnlichkeiten zu Defoes Text: Sowohl Prospero als auch Crusoe verlassen die Insel mit einem Schiff, dessen Mannschaft sich auf der Insel in zwei verfeindete Lager teilt (Moore, 53).

[4] Der französische Hugenotte Denis Veiras ( auch: Vairasse) d´Alais en Languedoc wurde vermutlich 1638 geboren. Er studierte Recht und setzte sich mit Philosophen wie Descartes auseinander. Er bereiste Europa, diente in der Armee Louis XIV und zog vermutlich 1665 nach London. Hier lernte er Locke kennen, startete eine kurze Karriere als Diplomat, zog um 1676 nach Paris, beschäftigte sich hier intensiv mit Geographie, Sprache, exotischen Kulturen und hielt Vorlesungen ab (Fausett, Writing the New World, 115).

In dieser Arbeit wurde mit einem Nachdruck der ersten deutschen Übersetzung von 1689 gearbeitet.

[5] Diese bibliographischen Daten weisen viele Ähnlichkeiten zum Lebenslauf Veiras auf.

[6] Fausett vermutet sogar, dass einer der im Erzähltextteil „Vorrede an den Leser“ erwähnten historischen Personen tatsächlicher Informant von Veiras gewesen sein könnte (New World, 123). Bleiler stimmt darüber überein, dass die historischen Ereignisse vor Australien Quelle für die Erzählung von Veiras gewesen sind, hält eine genauere Analyse möglicher Quellen aber für überflüssig und kritisiert Fausett für seine weiterreichenden Spekulationen (226).

[7] Adams betont, dass die zahlreichen, teilweise abschweifenden Beschreibungen ein wichtiges Stilmittel sind, um die Echtheit der Erzählung vorzutäuschen. Darüber hinaus sind die Naturbeschreibungen sehr eng an faktische Beschreibungen angelehnt und entstammen verschiedenen, auch schon oben genannten Quellen (Travel-Lit, 206).

[8] Stockinger betont, dass der Text weder als klassische Utopie, noch als moderner Roman bezeichnet werden kann; es handelt sich um einen fiktiven Reisebericht. Diese Form verbirgt den „brisanten Inhalt vor dem Zensor […]“ („´Realismus´, Mythos und Utopie. Denis Vairasse: L´Histoire des Sevarambes (1697-79)“, 75-76). Im Vergleich zu Fausett ist er an den Quellen des Textes und seiner Entstehungsgeschichte weniger interessiert. Möglicherweise unterschätzt Stockinger die Bedeutung der Beziehungen zu historischen Ereignissen; seine Textinterpretation ist dennoch präzise und stimmt mit der weniger genauen Deutung Fausetts weitestgehend überein.

[9] Spinoza (1632-77) wurde als Jude in Portugal religiös verfolgt und flüchtete nach Holland, wo er 1656 aufgrund seiner philosophischen Aussagen aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen wurde. Als Anwalt der Glaubens-, Denk- und Redefreiheit stand er kirchlichen und staatlichen Institutionen kritisch gegenüber und war Wegbereiter der Aufklärung (Sandvoss, 197). Seiner Auffassung nach stellen alle Menschen das öffentliche Recht höher als den eigenen Nutzen, wenn der Staat „vernünftig“ organisiert ist. Der natürlicherweise vorhandene Gottglaube verbindet dann den Menschen und produziert Loyalität gegenüber diesem perfekten Staat und somit auch Stabilität („Realismus“, Mythos, Utopie, 84-85). Mit dieser These wandte er sich gegen die institutionalisierte und dogmatische Religionsauffassung der Kirche.

[10] Dadurch trug dieser Text auch zur Veränderung der Rezeption von Utopien bei, die im modernen Sinn durchaus eine ideale, mögliche Zukunft darstellen sollen und als „Katalysator des Fortschrittes“ zeigen, was möglich ist (Stockinger, „Johann Gottwerth Müllers Übersetzung“, 195).

[11] Hendrik Smeeks war Arzt in Zwolle (Holland) und gehörte der reformierten Kirche Hollands an. Wenige weitere Daten sind über den Autoren bekannt: Kirchenaufzeichnungen aus Zwolle sagen aus, dass er 1680 heiratete; seine Frau starb 1733. Sie hatten vier Töchter und einen Sohn, der ebenfalls Arzt in Zwolle wurde (Fausett, Mighty Kingdom, XXVIII). Fausett vermutet, dass in den Angaben des Erzählers De Posos zu seiner Person einige autobiographische Hinweise auf den Autoren Smeeks zu finden seien (Mighty Kingdom, XXV).

[12] Die Cartesische Meditation war zwar Grundlage der modernen Wissenschaften und ermöglichte das Erkennen der Welt mittels sinnlicher Wahrnehmung und daraus folgend mittels des Experimentes, allerdings sah Descartes Gott und die „Außenwelt“ als gegeben an (was der Tradition des christlichen, mittelalterlichen Weltbildes entspricht). Im Unterschied dazu halten die Empiristen nur das für gegeben, was sich mittels der Sinne wahrnehmen lässt. Die Welt lässt sich also mittels der Sinne des Individuums erkennen, ohne dass dazu irgendein Vorwissen nötig ist. Auf dieser Annahme basierend kam dem „gesunden Menschenverstand“ als Mittel der Erkenntnis eine besondere Bedeutung zu. Auf dieser philosophischen Basis konnten sich moderne Ideen verbreiten. John Locke, beispielsweise, berief sich als Philosoph und Vertreter der neuen bürgerlich-puritanischen Gesellschaft mit seiner Erkenntnistheorie auf „Erfahrung“, “common sense“ (Vernunft) und Toleranz. Seine Theorien trugen maßgeblich dazu bei, dass die freiheitlichen Kräfte des puritanischen Christentums in Britannien dominierten ( Sandvoss, 184-195). Folge dieses geistigen Wandels war unter anderem die Durchsetzung marktwirtschaftlicher Kräfte und damit verbunden Tendenzen zu individualistischem, vorteilsorientierten Handeln. Diese zeitgenössische Diskussion spiegelt sich im Text von Smeeks explizit wider.

[13] Während eine Utopie eine fiktive, ideale Gesellschaft darstellt, stellt die Robinsonade eine ideale Abwesenheit von Gesellschaft (Isolation) dar und ist somit anti-utopisch (Fausett, Strange Sources, 17). So lebt Crusoe (später zusammen mit Freitag) in einem Mikrokosmos, der den modernen, ökonomischen Makrokosmos widerspiegelt, und zwar realistisch, nicht utopisch. Die Robinsonade stellt ein Modell des Lebens in geschlossener Autonomie dar; zwischenmenschliche Wechselbeziehungen, welche die utopische Gesellschaft prägen, fehlen.

[14] Diesen Wandel erkennt auch Rosenberg, indem sie sagt, dass Smeeks das Genre der Utopie dazu benutze, um seine eigenen Ideen und „Gelehrsamkeiten“ kundzutun; die Beschreibung einer utopischen Gesellschaft stünde nicht im Mittelpunkt der Erzählung und der Text sei daher keine klassische Utopie (379, 384). Sie wertet den Text als „misslungen“ ab, da er entsprechend ihres paradigmatischen Textverständnisses nicht mehr der Gattung „Utopie“ angehört. Fausett sieht den Text von Smeeks wertneutral als gattungs- übergreifend an und erkennt sowohl Elemente der traditionellen Reiseerzählung, als auch der Utopie und der Robinsonade. Er sagt, dass der Text das Verschwinden der klassischen Utopie markiere, da hier nämlich die Kommune und ihre Interessen zugunsten eines individuellen Helden aus dem Mittelpunkt der Erzählung rückt. Dieser Wandel geht einher mit der Entstehung der realistischen Reiseerzählung (“Mighty Kingdom“, X).

[15] Fausett betont, dass es sich daher um eine Erzählung in einer Anderen handelt. (New World, 154) Da aber schon das Vorwort des „Herausgebers“ als übergeordnete Rahmenerzählung zu betrachten ist, sind hier letztendlich drei Erzählungen ineinander geschachtelt. Diese kunstvolle und intentionale Gestaltung markiert den Beginn der Robinsonade als eigenständige literarische Gattung.

[16] Fausett: “The retorical boast `This is a true story´ had a long pedigree stretching back to the earliest novels such as Lucians´ famous True Story. Here, however, the gap between fact and fiction – the tension that gave the device its expressive power – narrows almost to a vanishing-point“ (“Tall Ships“, 60).

[17] In der Sekundärliteratur wird der Name in der Regel anders geschrieben, als im Originaltext.

[18] Polak betont, dass der Robinsonade-Teil lebhaft, locker und realistisch ist, während im Vergleich dazu die Darstellung des utopischen Staates sehr ausschweifend und trocken ist. Er vermutet daher, dass der Robinsonade-Teil stärker auf faktischen Erzählungen beruht (306). Die utopische Erzählung hingegen dient der Darstellung einer bestimmten politischen Meinung und ist daher weniger lebhaft erzählt.

[19] Malaysisch war eine weit verbreitete Handelssprache. Die Verwendung malaysischer Wörter verleiht der Erzählung Glaubwürdigkeit, da die Sprache fragmentarisch unter Überseereisenden bekannt war. Fausett vermutet außerdem, dass Smeeks seine Kenntnisse über diese Sprache oral von Seefahrern erhielt (Mighty Kingdom, XV).

[20] Der Gotteslästerung angeklagt versicherte Smeeks, niemals die Texte Spinozas gelesen zu haben; lediglich Descartes sei ihm bekannt. Außerdem betonte er, nicht seine eigenen Ideen dargestellt, sondern nur die Ideen der Südländer niedergeschrieben zu haben. Man glaubte ihm nicht; er wurde exkommuniziert (Fausett, Mighty Kingdom, XXVIII).

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